Das Wichtigste in Kürze:
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- Ethische Dilemmata zeigen uns, ob wir viele oder wenige Faktoren bei ethischen Entscheidungen als relevant ansehen. Je mehr Faktoren wir relevant finden, desto komplexer ist unsere Ethik.
- Ethisch relevante Faktoren können z.B. sein: Verwandtschaft, Distanz, Aktivität/Passivität, Menge der Betroffenen, Konsequenzen, Handlungen, Absichten oder Machtverhältnisse
- Sowohl eine simple als auch eine komplexe Ethik kann Vor- und Nachteile haben. Was besser ist, lässt sich kaum pauschal beantworten.
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Du begegnest jemandem, der sehr leidet, und kannst mit geringem Aufwand helfen. Wie zwingend ist deine moralische Pflicht, der Person zu helfen? Spielt es eine Rolle, ob die Person mit dir verwandt ist? Spielt es eine Rolle, wie weit die Person von dir entfernt ist?
Jemand stirbt. Spielt es eine Rolle, ob die Person ermordet wurde oder jemand sie wissentlich sterben ließ?
Darf man einer Person schaden, um 10 zu retten? Darf man 10’000 Personen schaden, um 100’000 zu retten?
Jemand schubst eine Person auf der Straße um und sie zieht sich eine leichte Prellung zu. Jemand anderes schubst eine Person auf der Straße auf die exakt selbe Weise um und sie schlägt mit dem Kopf auf den Bordstein auf und stirbt. Trifft die Personen unterschiedliche Schuld?
Ethische Dilemmata sind faszinierend und oft auch ein bisschen verstörend. Sie zeigen uns, dass Ethik nicht so einfach ist, wie man manchmal gern denken würde – und bisweilen zeigen sie uns Widersprüche in unserer Moral auf, die ordentlich Kopfzerbrechen bereiten. Die obigen Fragen zielen alle auf dasselbe Ziel ab: Sie sollen die Komplexität des Ethiksystems eines Menschen messen.
Komplexe und simple Ethik
Unter einer komplexen Ethik verstehen wir ein ethisches System, das viele verschiedene Faktoren als ethisch relevant ansieht. Je mehr berücksichtigt und einberechnet wird, um zu ethischen Urteilen zu gelangen, desto komplexer ist eine Ethik. Ein Mensch mit einer komplexen Ethik antwortet auf viele ethische Fragen mit „Kommt darauf an“. Der Gegensatz dazu ist eine simple Ethik. Eine simple Ethik besteht aus wenigen Grundsätzen, zu denen es wenig bis gar keine Ausnahmen gibt.
Als ich noch Christ war, hatte ich anfangs die Idee, die biblische Ethik sei extrem simpel: Die 10 Gebote zum Beispiel gelten immer, unter allen Umständen. Man tötet nicht, man lügt nicht, immer und überall, Ende. Doch schon in jungen Jahren fing ich an, mich zu fragen: Darf man wirklich NIE töten? Hat James Bond gesündigt, weil er bei der Rettung der Welt ein paar böse Handlanger unschädlich gemacht hat, die ihn angriffen? Was ist mit Notwehr, was mit Sterbehilfe? Und wie sieht es mit Lügen aus? Darf man eine Überraschung verheimlichen? Durften Deutsche damals die Nazis anlügen, wenn sie Juden bei sich versteckt hielten?
Zunehmend schien mir eine extrem simple, dogmatische Ethik nicht mehr sinnvoll. Und das sahen meist auch meine Mitchristinnen und Mitchristen so. Einmal fragte ich etwa meine Eltern, ob man sich auf dem Schulhof wehren dürfe, wenn jemand einen hauen wolle – Jesus hatte doch gesagt, man solle stets die andere Wange hinhalten. Für meine Eltern war völlig klar, dass man sich in so einem Fall als Christ wehren dürfe. Das erschien auch mir sinnvoll – aber wie es sich begründen ließ, war mir schleierhaft.
Was sind ethisch relevante Faktoren?
Es gibt verschiedenste Faktoren, die für jemanden ethisch relevant sein können. An den Beispielen vom Anfang sehen wir ein paar davon:
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- Du begegnest jemandem, der sehr leidet, und kannst mit geringem Aufwand helfen. Wie zwingend ist deine moralische Pflicht, der Person zu helfen? Spielt es eine Rolle, ob die Person mit dir verwandt ist? Spielt es eine Rolle, wie weit die Person von dir entfernt ist?
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Hier wird erfragt, ob Verwandtschaft und Distanz ethisch relevant sind. Sollte man einen fremden Straftäter verpetzen, aber bei einem aus der eigenen Familie kann man ein Auge zudrücken? Sollte man einem Kind helfen, das in einem Teich ertrinkt, an dem man gerade vorbeiläuft, aber einem Kind, das in Afrika verhungert und dem man mit einer Spende sicher das Leben retten könnte, muss man nicht unbedingt helfen?
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- Jemand stirbt. Spielt es eine Rolle, ob die Person ermordet wurde oder jemand sie wissentlich sterben ließ?
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Bei dieser Frage geht es um Aktivität und Passivität. Sind aktive und passive Sterbehilfe ethisch gleichwertig? Wenn man eine Maschine in seiner Firma so manipuliert, dass sich jemand daran verletzen wird, ist man dann gleich schuldig/verantwortlich, wie wenn man von einer gefährlichen Fehlfunktion an einer Maschine weiß und nichts dagegen unternimmt?
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- Darf man einer Person schaden, um 10 zu retten? Darf man 10’000 Personen schaden, um 100’000 zu retten?
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Hier wird abgefragt, ob die Menge der Betroffenen ethisch relevant ist. Sollte man konsequent immer auf Wohlergehensmaximierung / Leidreduzierung aus sein? Oder darf Leid immer nur willentlich zugefügt werden? Oder gibt es jeweils Ausnahmen?
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- Jemand schubst eine Person auf der Straße um und sie zieht sich eine leichte Prellung zu. Jemand anderes schubst eine Person auf der Straße auf die exakt selbe Weise um und sie schlägt mit dem Kopf auf den Bordstein auf und stirbt. Trifft die Personen unterschiedliche Schuld?
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Bei dieser Fragestellung geht es um Konsequenzen, Handlungen und Absichten. Bemessen wir die Schwere einer Tat primär daran, was sie bewirkt hat? Oder daran, was getan wurde? Oder ist vor allem die Absicht wichtig? Stellen wir eine dieser Dimensionen ins Zentrum und ignorieren die anderen oder wägen wir je nach Situation ab?
Und jetzt blick mal zurück: Je häufiger sich deine Urteile von Situation zu Situation verändert haben, desto komplexer ist deine Ethik.
Natürlich gibt es noch viele, viele weitere Faktoren, die für jemanden bei der ethischen Bewertung von Situationen relevant sein können. Rassistische, sexistische, homophobe und manche progressiven linken Personen schauen teils genau auf Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht und sexuelle Orientierung der Involvierten. Wahrgenommene Privilegien sind für so manche Leute oft ein Faktor – wurde „von oben nach unten“ oder „von unten nach oben geschlagen“? Hat jemand seine Macht missbraucht? Oder sieht die Straftat eher aus wie eine Verzweiflungstat eines Unterdrückten?
Komplexere oder simplere Ethik – Was ist besser?
„Die 10 Gebote haben 279 Wörter. Die EU-Verordnung zur Einfuhr von Karamellbonbons hat 25’911 Wörter“, lautet ein im Internet verbreiteter Spruch. Sind die 10 Gebote deshalb besser? Warum hat diese EU-Verordnung so viele Wörter? Ist das überhaupt vergleichbar?
Sollten wir möglichst viele Faktoren als ethisch relevant erachten? Oder die Zahl möglichst klein halten? Oder gibt es eine goldene Mitte zwischen den Extremen? Das wäre nun die Gretchenfrage, die keineswegs leicht zu beantworten ist. Sowohl eine zu dogmatische als auch eine zu flexible Ethik können Probleme mit sich bringen. Wir haben uns ein paar Vor- und Nachteile der beiden Ansätze überlegt:
Simple Ethik
+Einprägsamer
+Weniger Aufwand bei der Anwendung
+Niedrigere Gefahr, Widersprüche zu produzieren
-Pauschalisierender
-Unflexibler
Eine simple Ethik ist vor willkürlichen Ausnahmen im Stil von „Alle sind gleich, aber manche sind gleicher“ eher geschützt. Gleichzeitig muss man wohl eingestehen, dass manche Ausnahmen und damit eine gewisse Komplexität von Ethik unausweichlich sind. So manche Regel lässt sich nicht universell anwenden oder ist so allgemein gehalten, dass früher oder später willkürliche Auslegungen davon vorgenommen werden müssen. Das sieht man sehr schön am Beispiel der Regeln der Religionen und den Anstrengungen, die die heutige Theologie unternehmen muss, um diese mit den ethischen Ideen unserer heutigen Zeit zu vereinen.
Komplexe Ethik
+Flexibler
+Differenzierter
-Schwerer zu merken
-Aufwändigere Anwendung
-Höhere Gefahr, Widersprüche zu produzieren
Ein gewisses Maß an Komplexität scheint bei Ethik unumgänglich zu sein. Doch wird die Ethik zu kompliziert, dann ist es zunehmend schwierig, sie sich zu merken, sie zu beachten, zu „vermarkten“ und anzuwenden. In manchen Fällen wiederum könnte es einfacher sein, sie anzuwenden, da man für verschiedene Fälle eine genaue Regelung hat und nicht ein simples Pauschalgesetz auslegen muss. Doch jede Ausnahmeregelung will gut begründet und mit den restlichen Regelungen abgestimmt sein.
Fragen über Fragen
Stimmt ihr unseren Überlegungen zu? Welcher Ansatz macht für euch insgesamt das Rennen? Fallen euch weitere Vor- und Nachteile ein?
Was habt ihr über die Komplexität eurer Ethik gelernt? Habt ihr eher feste Grundsätze, die für euch nur mit wenigen Ausnahmen oder sogar ohne Ausnahme gelten? Oder schaut ihr euch eher jede Situation genau an und berechnet viele Faktoren ein? Eine Möglichkeit, dem vertieft auf die Spur zu kommen, ist dieser englische Test von Philosophy Experiments: https://www.philosophyexperiments.com/moralityplay/Default2.aspx
Es wäre hochinteressant, eure Gedanken zu all diesen Fragen und anderen zu hören. Wenn ihr Lust habt, sehen wir uns im Denklabor bei Facebook: https://www.facebook.com/groups/3284039411692152
Bis dann und danke für’s Lesen!