Vorsicht, wenn Religionen von Liebe reden

Liebe bedeutet, gute Dinge für andere zu tun. Doch was ist gut und was nicht? Darüber gibt es unzählige Ansichten, die sich bisweilen massiv voneinander unterscheiden. Wenn wir es nicht ohne Rückfrage akzeptieren, wenn jemand seine Weltanschauung als „gut“ bezeichnet, sollten wir es also auch nicht ohne Rückfrage akzeptieren, wenn jemand sagt, seine Weltanschauung basiere auf „Liebe“ und „Frieden“. Was heißt das für unseren Umgang mit Religion im gesellschaftlichen Diskurs?

Wahlkämpfe sind faszinierend. Wenn man sich die Wahlplakate von Parteien und KandidatInnen anschaut, kommt man nicht umhin, zu denken, dass eigentlich jeder bedenkenlos jede Partei wählen können sollte. Wer ist gegen Sicherheit, gegen Freiheit, gegen Wohlstand und Frieden? „Die Partei“ ist „sehr gut“ – warum also würde irgendjemand sie nicht wählen wollen?

Ganz einfach: Weil diese Begriffe sehr unterschiedlich definiert werden können. Weil das, was der eine für gut hält, für den anderen eine unmoralische Vollkatastrophe ist. Niemand wählt Die Partei einfach nur deshalb, weil sie sich als „gut“ bezeichnet. Man will wissen, was sie damit meint. Was definiert ihr als „gut“? Was wollt ihr in Deutschland an „Gutem“ bewirken? Jede Partei hält sich für „gut“, damit ist über die Inhalte noch nichts gesagt! Und das ist eine wichtige Lektion, die wir lernen müssen, bevor wir uns mit Ideologien und deren Unterkategorie der Religion beschäftigen.

Was ist Liebe?

Wenn wir mit jemandem über einen „Baum“ sprechen, so gehen wir davon aus, dass er an dasselbe denkt wie wir. Doch wird es wirklich genau dasselbe sein? Die Sprachforschung weiß, dass wir je nach unserer Sozialisation andere „Prototypen“ im Kopf haben. Wenn jemand aus der Karibik und jemand aus Skandinavien spontan an einen „Baum“ denken soll, werden die Vorstellung in den Köpfen dieser Personen nicht gleich aussehen. Und genausowenig können wir erwarten, dass jeder dasselbe unter Liebe und Güte versteht wie wir. Auch unsere Vorstellung davon, was Liebe ist und was gut und was schlecht ist, wird von unserer Sozialisation geformt  und von unseren Glaubenssätzen über die Realität.

Liebe könnte definiert werden als „das Beste für jemanden wollen“, und was das Beste ist und wie das am besten zu erreichen ist, kann sehr unterschiedlich gesehen werden. Wenn ich zum Beispiel glaube, dass ich meine Kinder am besten auf das Leben vorbereite, indem ich sie von der Aussenwelt möglichst abschirme, dann werde ich als liebendes Elternteil alles tun, um sie zu isolieren. Andere werden mich überhaupt nicht verstehen und mir sagen, ich sei von Hass erfüllt  weil ihre Ansicht ist, dass es für Kinder schlecht ist, derart von der Aussenwelt abgeschirmt zu werden. Folglich würde ihrer Sicht nach nur jemand seine Kinder so behandeln, der sie hasst. Vergessen geht, dass auch jemand seine Kinder so behandeln würde, der sie über alles liebt, aber falsche Ansichten dazu hat, was für sie das Beste ist.

Fehlgeleitete Liebe  ein Hauptproblem der Religion

Es muss immer wieder gesagt werden: Religion ist nicht nur ein lockerer Lifestyle, sondern geht gewöhnlich mit einem ganzen Katalog an Glaubenssätzen über die Realität einher. Und egal, von wie viel Liebe und guten Absichten jemand erfüllt ist  er oder sie wird seine Liebe an seinen Glaubenssätzen ausrichten, und das wird bestimmen, wie er sich letztlich verhält und wie sich sein Verhalten auswirkt. Und so kann selbst die beste Absicht desaströse Folgen haben.

Ein praktisches Beispiel für die Problematik war bei einem Interview des britischen Komikers und Moderators Russell Brand mit zwei Vertretern der fundamentalistischen Westboro Baptist Church zu sehen. Angesprochen auf ihren „Schwulenhass“ erklärten sie:

 

Bildergebnis für westboro baptist church russell brand

 

„Der Herr Jesus Christus gebot uns, unseren Nächsten wie uns selbst zu lieben. Man liebt seinen Nächsten, indem man ihn warnt, wenn seine Sünde ihn in die Hölle führt. Wer seinen Nächsten nicht warnt, der hasst ihn in seinem Herzen. Aus biblischer Sicht lieben wir euch also.“

 


Dieses Beispiel illustriert, dass hinter wahrgenommenem Hass nichts weiter als von Glaubenssätzen fehlgeleitete Liebe stecken kann. Akzeptiert man die Prämissen der beiden, so ist ihr Verhalten eine liebevolle Rettungsbemühung. Und zugleich illustriert es, wie bedeutungslos es ist, den Begriff „Liebe“ ohne weitere Erläuterungen zu benutzen, da dahinter eine Haltung stecken kann, die andere als Schwulenhass bezeichnen würden. Selbst Hitler schrieb, er sei von viel Liebe erfüllt und glaubte, das Beste für die Welt zu tun und jedem zu geben, was er naturgemäß verdient habe. Wenn man die Tagebücher von KZ-Funktionären liest, erfährt man, dass sie keinen Spaß am Holocaust hatten  es war für sie eine dreckige Pflicht, ein unschönes, aber nötiges Unterfangen zur Erreichung eines höheren Guts. Das sind keine Relativierungen oder Entschuldigungen, es sind Teilerklärungen.

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Sollte Ethik simpel oder komplex sein?

Glaubenssätze bestimmen, was für uns „Liebe“ konkret von Fall zu Fall bedeutet, und Ideologien und insbesondere Religionen beinhalten etliche solche Glaubenssätze. Wer glaubt, dass das Schicksal seines kranken Kindes alleine in Gottes Händen liegt, der wird es als Akt der Liebe ansehen, nur für es zu beten, statt es zum Arzt zu bringen. Wer glaubt, dass Gott aus guten Gründen fordere, dass ungläubige oder homosexuelle Kinder aus der Familie verstoßen werden sollten, der wird es als Akt der Liebe ansehen, dies zu tun. Wer glaubt, dass es für Frauen am besten ist, dem Manne untertan zu sein, der wird sie aus Liebe auf eine Art behandeln, die aus aufgeklärt-humanistischer Sicht nichts weiter als sexistische Diskriminierung ist.

Zwei wichtige Lektionen

Wir können aus dieser Problematik der fehlgeleiteten Liebe zweierlei Lehren ziehen, die wir bei unserem Blick auf die Welt und die Menschen darin berücksichtigen sollten.

1. Hinter wahrgenommenem Hass steckt oft fehlgeleitete Liebe. 

Im Internet wird gerne mehr Liebe auf der Welt gefordert. Doch es ist allzu oft nicht Liebe, die unserer Welt fehlt. Es läuft kaum jemand da draußen herum, der nicht das Beste für sich und die Welt will, der sich nicht richtig verhalten will. Keine Partei schreibt in ihrem Programm, man setze sich für Ungerechtigkeit und Leid ein. Die meisten Menschen, die uns als Teufel in Menschengestalt erscheinen, sind erfüllt von Liebe, haben aber andere Ansichten über die Realität als wir und glauben deshalb, dass andere Dinge das Beste, das Richtige, das Gerechte für die Welt seien. Und/oder sie sind sich mit uns nicht darüber einig, wie das Beste erreicht werden kann/soll.

Thanos aus "Avengers"

Schon als Kind waren mir eindimensionale Bösewichte in kindgerechten Büchern, Filmen und Videospielen suspekt. Warum sollte jemand „Der Böse“ sein, einfach nur, um „Böses“ zu tun, um seiner selbst Willen? Wenn er ein Psycho- oder Soziopath ist, okay. Aber ein halbwegs gesunder Mensch? Solche Bösewichte gibt es in der echten Welt nicht. Die „Bösewichte“ der echten Welt sind eher wie Thanos in den letzten beiden Teilen der Blockbuster-Reihe „Marvel’s Avengers“. Thanos ist zutiefst erfüllt von Liebe für das Universum und die Wesen, die darin leben. Und er ist der Meinung, dass Überbevölkerung ein großes Problem für Planeten ist, das sich letztlich verheerend für sie auswirkt. Deshalb schaut er manchmal vorbei und löscht die Hälfte aller Lebewesen aus  nicht aus Jux bzw. Bosheit, sondern weil er es als notwendiges Übel sieht, das für die jeweilige Zivilisation das Beste ist. Es würde also nichts bringen, von Thanos mehr Liebe zu fordern  man müsste mit ihm darüber reden, ob seine Strategie wirklich die beste Art ist, das Beste für alle zu erreichen.

Liebe fehlt nicht vielen. Das Problem liegt in den Ansichten über die Realität. Wir sollten realisieren, dass Wahrheitsliebe eine Bedingung für ethisch-moralische Güte ist. Denn nur, wer die Realität möglichst korrekt erfasst und einen guten Bullshit-Detektor hat, kann hoffen, dass sich seine Liebe auch möglichst wie Liebe auswirkt, dass er wirklich möglichst das Beste erreicht und wirklich „gut“ handelt. Falsche und schlecht begründete Glaubenssätze können auch die besten Absichten in die Irre leiten, sodass sie schrecklichen Schaden anrichten können. Es reicht nicht, den Leuten einfach nur nahezulegen, dass sie liebevoll sein sollen, denn das kann je nach Ansichten unzählige Dinge bedeuten. Wie lösen wir zum Beispiel den Nahostkonflikt mit nichts weiter als „Liebe“? Es hängt von unserer Sicht auf die Fakten der Realität ab, was wir als „richtiges“ Verhalten beurteilen.

Siehe auch:
Metaphorische Wahrheit: Wenn Falschheiten nützlich sind

2. Es ist ein nahezu komplett inhaltloses Statement, wenn jemand sagt, seine Weltanschauung baue auf Liebe und Güte auf. 

Was man unter Liebe und Güte versteht, ist von den eigenen Glaubenssätzen über die Realität abhängig. Kennen wir diese nicht, so wissen wir auch nicht, was jemand konkret meint und wie sich jemand in einem konkreten Fall verhalten würde, der von Liebe und Güte redet. Und da Religionen sehr häufig von Liebe und Güte reden und doch immer wieder Schaden anrichten, ist bei ihnen besondere Vorsicht geboten. Es ist ein Fehler, jegliche Gefahren, die es im Zusammenhang mit Religionen gibt, mit dem Verweis darauf abzutun, dass sie doch Liebe predigen. Denn darüber, was ihre VertreterInnen damit meinen und was sie von Situation von Situation empfehlen, ist damit noch rein gar nichts gesagt. Sie wollen das Richtige tun  doch was das ihrer Meinung nach ist, wissen wir damit noch nicht.

Deswegen ist es etwa auch so unsinnig, CDU/CSU auf das C in ihrem Parteinamen hinzuweisen, wenn sie etwas tut, was einem nicht liebevoll erscheint. „Christlich“ wird dabei mit „liebevoll“ gleichgesetzt und unter „liebevoll“ versteht man ausgerechnet die Definition und praktische Umsetzung von Liebe, die man selbst vorzieht. Dabei werden sowohl die Definition von christlicher Liebe als auch die individuelle Auslegung deren der individuellen Parteimitglieder übergangen.

Man kann nicht einfach davon ausgehen, dass die Bibel, das Christentum und die Mitglieder von CDU/CSU genau dasselbe für liebevoll und gut erachten wie man selbst. Die biblische Nächstenliebe des neuen Testaments schließt beispielsweise Religionszwang, Sexismus, Sklaverei und Antisemitismus ein, vom alten Testament mit Schwulenfeindlichkeit, Jungfräulichkeitskult und und und wollen wir gar nicht erst anfangen. All das steht in der Bibel nicht im Widerspruch dazu, sich liebevoll zu verhalten  es ist sogar Ausdruck von Liebe. Es kann daher niemanden überraschen, der die Bibel gelesen hat, wenn entsprechende Äußerungen und Taten von mit reichlich Liebe erfüllten Christen kommen. Wir können über jeden Christen froh sein, der in seinem Leben zuerst eine aufgeklärtere Liebe kennengelernt und diese dann unter Ausblendung aller unpassenden Verse in den biblischen Liebesbegriff hineinprojiziert hat.

Und auch im Islam finden wir dieselbe Problematik. Es reicht nicht, sich damit zufrieden zu geben, dass er sich als Religion des Friedens bezeichnet. Wir müssen wissen, wie dieser Frieden aussieht und wie er erreicht werden soll, was der Islam und seine Vertreter von Situation zu Situation für Urteile vorschlagen. Nicht jeder hält dasselbe für liebevoll, gut und richtig. Also lasst uns darüber reden, gläubig oder nicht. Denn wie Philosoph Michael Schmidt-Salomon sagte, verläuft in puncto Ethik nicht strikt eine Grenze zwischen Religiösen und Nichtreligiösen. Es verläuft viel eher eine Grenze zwischen Menschen mit einem dogmatischen Zugang zur Realität und Menschen mit einem offenen, rational-empirischen Zugang zur Realität.

Fazit

Ein gutes Zusammenspiel von Vernunft und Empirie ist der Schlüssel zu einer möglichst guten, liebevollen Ethik. Unsere Ansichten über die Realität leiten uns, wenn wir bestimmen, was das „Richtige“ ist. Und deshalb müssen wir versuchen, Logik und Empirie zu berücksichtigen und Denkfehler zu umgehen, wenn wir uns liebevoll verhalten wollen. Vielen „Bösewichten“ fehlt nicht Liebe, sondern sie irren sich über die Realität und/oder haben ihr Denken und Tun zu wenig reflektiert. Das entschuldigt ihre Taten nicht, aber es erklärt vieles. Lasst uns nicht vergessen, dass die allermeisten Menschen das Beste wollen, aber die Realität anders sehen als wir. Reden wir also miteinander über die Realität und finden wir heraus, was von Situation zu Situation das Beste ist, statt uns mit Symbolpolitik zufrieden zu geben.

3 comments on “Vorsicht, wenn Religionen von Liebe reden

  1. Schmidt-Salomon sollte in allen Schulen und Volksschulen gelesen uns behandelt werden. Es gibt immer noch zu viele Leute, die glauben, ihre Sicht sei die einzig wahre und richtige, und in Wirklichkeit sind die Menschen sehr verschieden in Veranlagungen, Charaktere und Erfahrungen.

  2. Könnte man „Liebe“ als ein kognitive Krankheit bezeichnet? … ich meine, wenn es untersucht wird, alles was die Menschen wegen „Liebe“ machen, scheint mir so aus als „Liebe“ ein Glitch in Gehirn wäre.

    1. Es stimmt zwar, Liebe macht zu schlechteren Erkenntnismaschinen, schlechteren Wahrheitsfindern.
      Aber ob das schlecht ist oder nicht, ist vom Sinn des Menschen abhängig. Wenn er keinen hat, sondern nur ein Haufen Atome in einem gottlosen Universum ist sehe ich nicht weshalb irgendein Ziel im Leben nicht legitim sein sollte.

      Man muss den Mensch halt betrachten als das was er ist, ein im Vergleich zu anderen Arten auf dem Planeten recht hoch entwickeltes Tier. Und in dem Kontext betrachtet ist Liebe als fundamentales Bindematerial von Gesellschaften sicherlich eher hilfreich denn hinderlich, denn der Sprung zum perfekten Erkenntnisapparat ist uneralistisch.

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