Funktioniert die Vernunft überhaupt?

Ist es vernünftig, die Dinge vernünftig zu betrachten? Ist Rationalität rational? Gibt es Wahrheit und können wir sie erkennen? Je mehr man über diese Sätze nachdenkt, desto mehr verwandeln sie das Gehirn in Gelée. Aber man sollte es tun, denn bevor man über irgendetwas nachdenkt, sollte man sich mit dem Denken selbst und dessen Möglichkeiten beschäftigt haben. 

Vernunft ist die Fähigkeit des Menschen, zu denken, Zusammenhänge zu erkennen, Schlüsse zu ziehen, die Wahrheit zu finden. Hier erheben nun die Ersten den Zeigefinger: Gibt es das überhaupt, «Wahrheit»? Das lässt sich sehr leicht beantworten. Ist der Satz «Es gibt keine Wahrheit» wahr? Er kann nicht wahr sein, ohne ein Paradoxon herbeizuführen. Dass es kein «wahr» und kein «falsch» gibt, ist unmöglich, da dazu die Aussage, dass es keine Wahrheit gibt, wahr sein müsste. Es gibt also Wahrheit und Falschheit. Diese Eigenschaften von Aussagen sind eine zwingende Grundbedingung für jegliches Denken. Nun lautet die Frage: Können wir Menschen die Wahrheit erkennen? 

Hier stossen wir nun auf ein sehr ähnliches Paradoxon. Nachdenken und Aussagen treffen können wir nur anhand unserer Vernunft. Wenn wir nun also darüber nachdenken, ob die Vernunft die Wahrheit erkennen kann, dann befragen wir die Vernunft, ob die Vernunft die Wahrheit erkennen kann. Kämen wir nun zu dem Schluss, dass die Vernunft die Wahrheit nicht erkennen kann, so hätten wir die Wahrheit dieser Aussage anhand der Vernunft erkannt. Wieder entsteht ein unauflösbares Paradoxon, das den schottischen Philosophen Thomas Reid zu folgender Aussage inspirierte:

«Sich anzuschicken, mittels des Verstandes die Wirksamkeit des Verstandes zu widerlegen, hat den Anschein eines philosophischen Wahns. Es ist, als würde jemand vorgeben, klar und deutlich zu sehen, dass er und alle anderen Menschen blind seien.»

Zwingende Voraussetzungen

Man kann also die Aussage nicht treffen, dass die Vernunft nicht in der Lage sei, die Wahrheit zu erkennen. Wenn es stimmte, dass die Vernunft die Wahrheit nicht erkennen kann, so hätte auch niemand diese Wahrheit entdecken können. Nun mag manch ein Hardcore-Skeptiker sagen: «Soso, Herr Klugscheisser. Dann beweis’ er mir doch einmal, dass die Vernunft die Wahrheit tatsächlich erkennen kann.» Das ist eine lustige Aussage.

Es wird nun nämlich verlangt, dass durch Gebrauch meiner Vernunft und Appell an die Vernunft des Skeptikers die Legitimität der Vernunft bewiesen wird. Dinge zu beweisen, ist ein Mittel der Vernunft. Die Aussage «Beweise mir, dass die Vernunft funktioniert» ist also inhaltlich dieselbe Aussage wie «Beweise mir, dass es funktioniert, Dinge zu beweisen.» Damit setzt man bereits voraus, dass die Vernunft und das Beweisen funktionieren. Da könnte man auch gleich sagen: «Wo in den Fussballregeln steht denn, dass die Fussballregeln überhaupt gültig sind?»

Siehe auch:
Gedankengärung, Teil 2 - Warum die effektive Meinungsbildung in Gefahr ist

Hier kommen wir auch zu der grossen Ironie von Forderungen nach Beweisen für die Fähigkeit der Sinnesorgane, Reize korrekt aufzunehmen. Wenn jemand von mir fordert, ihm die Verlässlichkeit seiner Sinnesorgane zu beweisen, so tut er das unter Zuhilfenahme auditiver und/oder visueller Reize, und er möchte von mir nun auditive und visuelle Reize, die ihm beweisen, dass man durch auditive und visuelle Reize verlässlich Informationen aufnehmen kann. Das kann er nicht machen, ohne dabei vorauszusetzen, dass die Sinnesorgane zumindest prinzipiell in der Lage sind, Reize richtig zu interpretieren. Denn könnten sie das nicht, so wäre es ein sinnloses Unterfangen, genau diese Sinnesorgane zu benutzen, um mit mir zu kommunizieren. 

Für’s Überleben gemacht

Wichtig bei der ganzen Sache: Dass es Wahrheit gibt, bedeutet nicht, dass jede Aussage immer völlig wahr oder völlig falsch ist, und es bedeutet auch nicht, dass wir immer in der Lage sind, zu bestimmen, was wahr und was falsch ist. Aber wir können es in vielen Fällen erkennen. Manche Skeptiker wenden hier gerne ein, dass ja die Evolution nur nach dem selektiere, was dem Überleben zuträglich sei, und das Finden von Wahrheit sei ja nicht zwingend überlebensfördernd. Nicht zwingend, ja – aber oft schon. Unsere Rationalität entstand als Werkzeug zum Überleben, und deshalb ist sie oft Sklavin unserer Emotionen – doch das schliesst nicht aus, dass sie Wahrheit finden kann.

Wenn unsere Sinne und unsere Vernunft nicht in der Lage wären, zu bestimmen, wie die Realität beschaffen ist, hätten wir auf diesem Planeten niemals so lange überlebt. Dennoch verweisen die eben genannten Skeptiker auf einen sehr wichtigen Punkt: Unsere Gehirne sind letztlich primär auf das Überleben gedrillt worden, und das bedeutet, dass unsere Vernunft zwar in der Lage ist, Wahrheiten zu erkennen, dass sie dabei aber immer wieder Fehler macht. Deswegen kritisierte Kant die „reine Vernunft“. Sie ist begrenzt und wird regelmässig von kognitiven Verzerrungen und logischen Fehlschlüssen in die Irre geleitet, weil sie nicht von einem allmächtigen, allgütigen Ingenieur designt wurde, sondern eben ein Produkt der Zustände auf der Erde ist und sich oft eher wie ein Anwalt unserer Wünsche statt wie ein neutraler Wissenschaftler verhält.

Siehe auch:
Welche Eigenschaften hat der ideale Philosoph?

Die Vernunft: Nicht perfekt, aber funktionstüchtig

Man muss wie so oft beide Seiten der Medaille berücksichtigen: Die Vernunft ist in der Lage, Wahrheit zu erkennen – und sie irrt dabei gerne einmal. Das sind die Grundvoraussetzungen allen Denkens. Und wer noch weitere Belege dafür will, dass wir die Realität richtig erfassen können, kann sich gerne die Wissenschaft anschauen. Die Wissenschaft ist angewandte Vernunft. Würde die Vernunft nicht funktionieren, so wäre es niemals möglich gewesen, dass wir die Gesetzmässigkeiten des Universums entdecken und sie uns zunutze machen können, sei es in der Technik, der Medizin, der Mathematik, der Physik, der Chemie, der Psychologie und und und. Dazu lassen wir abschliessend den Biologen Dr. Jerry Coyne sprechen:

«Wissenschaftler werden des ‘Glaubens an die Vernunft’ bezichtigt. Die Vernunft ist aber keine vorausgehende Annahme, sondern ein Werkzeug, das sich als funktionstüchtig erwiesen hat. Wir ‘glauben’ nicht an die Vernunft, wir benutzen sie, und wir benutzen sie, weil sie Resultate und fortschreitendes Verständnis hervorbringt. (…) wissenschaftliches Denken hat Antibiotika, Computer und die Fähigkeit, den Stammbaum des Lebens durch die Sequenzierung der DNS verschiedener Arten zu rekonstruieren, hervorgebracht. Selbst wenn wir darüber diskutieren, ob wir die Vernunft verwenden sollten, ist der Gebrauch der Vernunft involviert.»

Wir können die Vernunft also ruhigen Gewissens benutzen und dürfen aus guten Gründen erwarten, damit immer wieder Erfolge zu feiern. Ein gewisses Grundvertrauen ist völlig gerechtfertigt, und selbstverständlich gehören auch immer eine grosse Portion Skepsis und intellektuelle Redlichkeit und Bescheidenheit dazu. Das ist die Haltung, die eines Wahrheitsliebhabers – also eines Philo-Sophen – angemessen ist. 

Jetzt ist also geklärt, dass dieses Vorhaben hier Früchte tragen kann – dann reden wir doch einmal darüber, warum wir das hier machen!

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