Meinungsfreiheit ist kein rechtes Thema!

meinungsfreiheit ist kein rechtes thema

Das Wichtigste in Kürze:

  • Es gibt verschiedene Ideen dazu, was Meinungsfreiheit ist und was es sein sollte. Manche sehen darin die Freiheit von Widerspruch, andere sehen darin ein Grundrecht, das nur die Beziehung zwischen Individuum und Staat betrifft. Beides sind eher schlechte Ideen.
  • Auch Widersprüche sind Meinungen, und Grundrechte haben einen Zweck und einen Geist. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit hat den Zweck, einen Rahmen für freie Debatten zu schaffen. Der dahinterstehende Geist ist: Denk an deine Fehlbarkeit, sei lernwillig und schätze oder toleriere deswegen zumindest den freien Meinungsaustausch als Treibstoff für Fortschritt und die geistige Gesundheit der Gesellschaft.
  • Meinungsfreiheit ist also keine reine Behauptungsfreiheit und mehr als nur ein Recht gegenüber dem Staat. Auch wenn freie Debatten legal unterbunden werden und Menschen wegen ihrer Meinung zensiert, beleidigt, ausgegrenzt, verfolgt oder persönlich angegriffen werden, ist sie eingeschränkt. Das ist für uns alle ein Problem und geht uns alle an. 

 

Was ist Meinungsfreiheit? Von nicht wenigen wird zunehmend angezweifelt, dass sie bei uns noch intakt ist. Gleichzeitig halten viele entgegen, dass sie in keiner Weise beeinträchtigt sei. Schauen wir mal, was die Leute darunter verstehen – und was sie vielleicht darunter verstehen sollten.

Es wird viel über Meinungsfreiheit gesprochen – aber wenig darüber, was Meinungsfreiheit eigentlich bedeutet. Und eine Diskussion, bei der man sich nicht auf Begriffsdefinitionen geeinigt hat, ist wie ein Wettlauf, bei dem man sich vorher nicht auf ein Ziel geeinigt hat: Da kann man nur endlos im Kreis laufen und einander anschreien, weil man der eigenen Ansicht nach gewonnen hat.

Sprechen wir also mal über ein paar mögliche Definitionen von Meinungsfreiheit. Es scheint uns da zwei Extrempole zu geben, deren Betrachtung für einen guten Überblick sorgen könnte. Worin sich interessanterweise alle einig zu sein scheinen, ist, dass Meinungsfreiheit erstrebenswert ist. Sonst würden die Leute das Argument wahrscheinlich nicht bestreiten, dass es keine Meinungsfreiheit mehr gibt, sondern einfach sagen: „Ja, gibt’s nicht mehr – na und?“.

Extrem A: Meinungsfreiheit ist Widerspruchsfreiheit

Es gibt die Idee, Meinungsfreiheit bedeute, dass man seine Meinung ohne jeglichen Widerstand äußern darf. Diesem Verständnis nach ist sie immer dann eingeschränkt, wenn jemand einer Meinung widerspricht, sie kritisiert, ihr eine andere Meinung entgegenstellt oder in irgendeiner anderen Form seine Ablehnung zum Ausdruck bringt. Diese Definition hat das Problem, dass das Äußern eines Widerspruchs selbst die Äußerung einer Meinung darstellt.

Widerspruch und Kritik fallen genau so unter die Meinungsfreiheit wie Aussagen, die auf keine andere Meinung antworten. Ansonsten wäre diese Meinungsfreiheit nur eine Freiheit zum Behaupten, die mit einem Verbot zum ablehnenden Antworten einhergehen würde. Und es ist anzuzweifeln, dass jemand, der dieses Meinungsfreiheitsverständnis als Argument gegen ablehnende Äußerungen verwendet, auch findet, dass man nicht ablehnend auf Meinungen antworten dürfe, die er selbst ablehnt.

Extrem B: Meinungsfreiheit betrifft nur die Beziehung zwischen Individuum und Staat

Am anderen Ende des Meinungsspektrums zur Meinungsfreiheit finden wir die Idee, dass Meinungsfreiheit einzig und allein in der Beziehung zwischen Individuen und dem Staat existieren oder nicht existieren könne. Meinungsfreiheit sei ein Grundrecht, und es gibt juristische Definitionen, die Grundrechte als etwas definieren, das ausschließlich Rechte des Individuums gegenüber dem Staat bezeichnet. Demnach kann nur der Staat Meinungsfreiheit gewähren oder einschränken. Akzeptiert man diese Definition, so muss wohl jeder eingestehen, dass es bei uns sehr wenige Einschränkungen der Meinungsfreiheit gibt. Doch es stellt sich die Frage: Ist Meinungsfreiheit wirklich nicht mehr als das?

Siehe auch:
Warum Facebook die Finger von Fact Checking lassen sollte

Vom Zweck und Geist der Grundrechte

Denken wir über ein Beispiel nach:

Warum gewährt unser Staat das Recht auf einen fairen Prozess?

Weil wir uns mal als Gesellschaft darauf geeinigt haben, dass jeder das Recht haben sollte, angehört und verteidigt zu werden, bevor man ihn verurteilt und straft. Dahinter steht eine größere Idee, dahinter stehen Ideale, Werte und Prinzipien. In diesem Grundrecht kommt zum Ausdruck, dass wir als Gesellschaft Fairness in der Behandlung von Angeklagten wichtig und erstrebenswert finden und diese Leute frei von fairen Prozessen profitieren können sollten.

Stellen wir uns nun vor, in unserer Gesellschaft würde zunehmend Selbstjustiz geübt. Würden wir dann sagen: „Das Recht auf einen fairen Prozess ist nichts weiter als ein gesetzliches Grundrecht und kann als solches nur vom Staat gewährt und eingeschränkt werden. Somit ist das Recht auf einen fairen Prozess in unserer Gesellschaft nach wie vor vollständig gewährleistet.“?

Wäre das eine sinnvolle Aussage? Wir finden: Nein.

Das gesetzliche Grundrecht auf faire Prozesse hat einen Zweck: Es soll den Rahmen dafür schaffen, dass Menschen frei von fairen Prozessen profitieren können und von kurzen Prozessen verschont bleiben. Wenn verhindert wird, dass Menschen frei von fairen Prozessen profitieren können, hat es diesen Zweck verfehlt. Und damit es seinen Zweck erfüllen kann, braucht es nicht nur Gesetze, die das auf staatlicher Ebene ermöglichen, sondern auch eine Kultur, die es erlaubt. Grundrechte haben auch einen Geist: Im Recht auf einen fairen Prozess kommt die Überzeugung zum Ausdruck, dass der kurze Prozess nichts Gutes ist – und wenn sich der Staat entsprechend verhält, aber die Gesellschaft nicht, dann wird dieser Geist nicht respektiert.

Aus diesen Gründen plädieren wir dafür, Rechte nicht auf bloße Gesetze zu reduzieren, die die Beziehung zwischen Staat und Individuum regeln. Es geht dabei um mehr: Diese Rechte zielen auf einen Zweck und basieren auf einem Geist. Wie sieht es nun diesbezüglich bei der Meinungsfreiheit aus?

Zweck und Geist der Meinungsfreiheit

Welche Idee steckt hinter dem Grundrecht der Meinungsfreiheit? Warum bestraft unser Staat grundsätzlich niemanden für seine Meinung? Das geht letztlich zurück auf die Ideen von Philosophen, und der wahrscheinlich beste Verfechter der Meinungsfreiheit war der Brite John Stuart Mill, der im 19. Jahrhundert lebte. In seinem Werk „On Liberty“ („Über die Freiheit“) nannte er Argumente für freie Meinungsäußerung, die sich in folgenden drei Punkten zusammenfassen lassen:

  1. „Wird eine Meinung zum Schweigen gebracht, so könnte diese wahr sein. Streiten wir das ab, nehmen wir unsere eigene Unfehlbarkeit an.“

  2. „Selbst wenn die unterdrückte Meinung ein Irrtum ist, enthält sie sehr oft ein Stück Wahrheit, und da die allgemeine oder vorherrschende Meinung zu jeglichen Themen selten bis nie die ganze Wahrheit ist, kann nur durch das Aufeinandertreffen mit anderen Meinungen der Rest der Wahrheit hervorgebracht werden.“

  3. „Selbst wenn die akzeptierte Meinung nicht nur wahr, sondern die ganze Wahrheit ist: Werden ihr energisches und ehrliches Anfechten nicht gestattet und praktiziert, so werden die meisten, die sie glauben, sie wie ein Vorurteil glauben und ihre rationalen Begründungen kaum verstehen oder fühlen. Und nicht nur das: Die Bedeutung der Überzeugung selbst läuft Gefahr, verlorenzugehen oder an Kraft einzubüßen und ihren unverzichtbaren Effekt auf Charakter und Verhalten zu verlieren.“

Der Zweck des Grundrechtes auf Meinungsfreiheit ist es, den Rahmen für freie Diskurse in der Gesellschaft zu schaffen, die wir brauchen, um Ideen zu prüfen, zu entwickeln und in Schach zu halten – und um Konflikte gewaltfrei angehen zu können. Und der Geist der Meinungsfreiheit besteht darin, dass wir unsere eigene Fehlbarkeit eingestehen und immer die Möglichkeit des Dazulernens im Kopf behalten und deswegen das freie Debattieren verschiedenster Standpunkte als Treibstoff für Fortschritt, Schutz vor Tyrannei und Gewalt und eine gesunde geistige Kultur mindestens tolerieren, bestenfalls wertschätzen. Wird dieser Zweck nicht erreicht und dieser Geist nicht respektiert, dann ist die Meinungsfreiheit eingeschränkt – auch wenn das rein gesetzliche Grundrecht auf Meinungsfreiheit gegenüber dem Staat nicht verletzt wurde.

Siehe auch:
Jenseits des Überzeugens - Was bringt es, zu diskutieren?

Fazit: Meinungsfreiheit geht uns alle an

Wenn der Staat es erlaubt, Hüte zu tragen, aber gleichzeitig Individuen und Unternehmen Hutverbote erlassen und Leute mit Hüten beleidigt, ausgegrenzt, verfolgt oder persönlich angegriffen werden, dann gibt es keine Hutfreiheit. Natürlich dürfen diese Individuen und Unternehmen fast alles davon – damit ist aber nichts darüber gesagt, ob sie es auch tun sollten. Es kann große Probleme in einer Kultur geben, obwohl im streng juristischen Sinne keine Grundrechte des Individuums gegenüber dem Staat verletzt wurden.

Meinungsfreiheit wird eingeschränkt, wenn ein YouTube-Kanal keine kritischen Kommentare mehr zulässt, weil dadurch ein freier Diskurs verunmöglicht wird. Der Geist der Meinungsfreiheit wird mit Füßen getreten, wann immer jemand wegen seiner Meinung zensiert, beleidigt, ausgegrenzt, verfolgt oder persönlich angegriffen wird. Das ist nicht verboten (außer bei strafbaren Beleidigungen und Handlungen) – aber wir sollten einsehen, dass es gegen den Zweck und Geist der Meinungsfreiheit geht und diese damit einschränkt. Und wenn wir solches dennoch tun wollen, dann sollten wir so ehrlich sein und zugeben, dass wir mit der Meinungsfreiheit ein Problem haben.

 

John Stuart Mill über das Unterdrücken von Meinungen

 

Meinungsfreiheit ist kein rechtes Thema und auch keines, das nur den Staat angeht. Es ist kein Verschwörungsthema und kein Fundamentalistenthema. Keine Idee gehört jemandem, weil er sie zufällig ausspricht. Ideen wie die Meinungsfreiheit sind unabhängig von Menschen zu betrachten, die sie äußern, und wenn wir das tun, dann wird klar: Meinungsfreiheit dient uns allen und geht uns alle an. Natürlich rufen diejenigen, die ihren Zweck und Geist aktuell gerade am meisten verletzt sehen, am lautesten danach. Wir würden wegen den Argumenten, die John Stuart Mill so treffend artikuliert hat, immer dafür eintreten, dass nicht nur der Staat, sondern auch die Kultur ihren Zweck und ihren Geist respektieren, egal, wer gerade in seiner Freiheit eingeschränkt wird.

Und was ist, wenn wir einmal in der Minderheit sind? Wenn die Kultur einmal uns außerhalb des diskutablen Spektrums verortet, obwohl wir selbst das überhaupt nicht verstehen?

Wie sagt Thomas More im Theaterstück „Ein Mann zu jeder Jahreszeit“: “

„Wenn Du das Gesetz verletzt, um den Teufel zu jagen, womit willst du dich dann verteidigen, wenn er sich zu dir umdreht?“

One comment on “Meinungsfreiheit ist kein rechtes Thema!

  1. Die Sache mit den Beleidigungen ist interessant. Wird die Meinungsfreiheit eingeschränkt, wenn manche Meinungen mit Beleidigungen bedacht werden? Oder wird die Meinungsfreiheit eingeschränkt, wenn Meinungen zensiert werden, die (angeblich oder tatsächlich) jemanden oder etwas beleidigen?

    Wenn heute effektiv die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird, etwa in sozialen Medien, dann oft mit der Begründung, es handle sich um „hate speech“. Aber was ist „hate speech“ überhaupt? Werden zu viele Dinge als „hatte speech“ klassifiziert? Und sollte tatsächliche „hate speech“ wirklich zensiert werden? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht?

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