Die besten Argumente gegen die Cancel Culture (Alex O’Connor)

Sollte die Cancel Culture gecancelt werden? Die altehrwürdige Oxford Union organisierte kürzlich eine Online-Debatte zu diesem Thema. Besonders herausgestochen hat für uns die Pro-Rede von Alex O’Connor, besser bekannt als der philosophische YouTuber „Cosmic Skeptic“. Wir haben seine Rede ins Deutsche übersetzt. Viel Vergnügen!

“Die Cancel Culture ist eine Art der sozialen Bestrafung. Eine Bestrafung setzt ein Fehlverhalten voraus. Diejenigen, die von ihr ins Visier genommen werden, haben sich im Allgemeinen ethisch falsch verhalten und sollten zur Verantwortung gezogen werden. Wo findet sich irgendjemand, der dies abstreitet? Ich verstehe wirklich nicht, was hier vor sich geht: Alle Vertreter der Gegenseite betonten, dass Leute zur Verantwortung gezogen werden müssen. Doch wer hat je bestritten, das dem so sei? Wir alle sind uns einig darin, dass dies der Fall ist, also lasst uns nicht über Dinge streiten, bei denen wir uns einig sind.

Es geht offensichtlich nicht nur darum, Leute zu Verantwortung zu ziehen, das ist eine Nebelkerze. Es geht darum, Leute angemessen zur Verantwortung zu ziehen. Lassen Sie mich an die unbestrittene goldene Regel des Strafens erinnern: Die Strafe muss dem Vergehen entsprechen. Wie Suzanne anmerkte: Manche Vergehen schreien nach den schwersten Strafen, die wir aussprechen können. Ich denke nicht, dass wir Strafen haben, die etwa den Schaden sexuellen Missbrauchs aufwiegen können. Doch tun wir nicht so, als seien dies die einzigen Menschen, die von der Cancel Culture ins Visier genommen werden. Das Problem ist: Mit dem Aufkommen von Social Media erhielten wir Möglichkeiten, denen nichts entspricht, was unsere Spezies je gesehen hat. Und wir haben absolut nichts unternommen, um sicherzustellen, dass diese Möglichkeiten verantwortungsvoll genutzt werden.

Die Atombombe der sozialen Selbstjustiz

Wird die Macht von Social Media gegen jemanden verwendet, so ist sie größer als alles, was eine Person oder Regierung sich bis vor wenigen Jahrzehnten hätte erträumen können. Nie zuvor hatten wir die Möglichkeit, die Aufmerksamkeit der gesamten Welt auf eine einzelne Person zu lenken. Und diese Person muss nicht einmal eine öffentliche Person sein. Es kann sich um einen beliebigen Teenager handeln, dessen Tweet unerwarteterweise zu einer viralen Sensation wurde. Seien wir bitte ehrlich: Die Cancel Culture richtet ihren Blick nicht lediglich auf die schwerwiegendsten Vergehen, die dies wirklich verdienen, wie Mord oder sexuellen Missbrauch. Tatsächlich muss sie das auch gar nicht, denn dazu ist unser Rechtssystem da. Häufiger wendet sich die Cancel Culture gegen ethische Vergehen, die verwerflich sind, manchmal sehr verwerflich – aber nicht unendlich verwerflich. Setzen wir nun die Puzzleteile zusammen:

Nehmen wir an, das moralische Vergehen einer Person ist wahrhaft verwerflich. Ist es verwerflich genug – das müssen wir uns fragen -, um auf diese einzelne Person etwas zu entfesseln, das in seiner Wucht einer Atombombe gleichkommt? Social Media reicht in unsere privaten und öffentlichen Leben hinein, was es wahrhaft unmöglich macht, zu entkommen. Es ist die mit Abstand mächtigste soziale Waffe, die uns zur Verfügung steht. Dies ist meine erste Herausforderung für die Gegenseite: Können Sie beschreiben, inwiefern genau sich das Canceln angemessen anwenden lässt? Ich habe bisher noch nicht einmal einen Versuch in diese Richtung gehört. Doch dies ist mit Sicherheit das Allerwichtigste am Anfang dieser Debatte. Ich möchte präzise Angaben: Eine Woche unter dem Zorn eines Twitter-Mobs? Gesperrt werden? Einen Buchvertrag verlieren? Entlassen werden? Zukünftige Stellen nicht bekommen?

Wie viel Cancel Culture ist zu viel?

Wir müssen präzise sein. Manche Taten legitimieren vielleicht all das – doch wie sollen wir sicherstellen, das die betroffene Person nur eine Strafe erhält, die nicht über die Schwere ihres Vergehens hinausgeht? Wie stellen Sie sicher, dass es nicht ausartet? Können Sie das nicht, dann treten Sie ein für eine Maschinerie der überzogenen und willkürlichen Bestrafung, was mehr als ethisch unverantwortlich ist. Überzogene und willkürliche Bestrafung ist das Verhalten von Tyrannen, nicht von denkenden Wesen, die es mit der Moral ernst meinen. Dies ist eines der zentralsten Dinge, deren Aufkommen ein funktionierendes System der moralischen oder rechtlichen Justiz verhindern muss, und es ist das, worin die Cancel Culture am besten ist: Schlägt sie los, hört sie nicht auf. Wie gedenken Sie der gesamten Welt Einhalt zu gebieten, wenn sie in ihrer Verurteilung zu weit geht?

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Wenn die Cancel Culture häufig zu überzogener Bestrafung führt – was an dieser Stelle kaum demonstriert werden muss -, dann muss sie abgelehnt werden, selbst bei wahrhaft verwerflichen Vergehen. Falls wir also keine präzise Darlegung dazu hören, wie schwer das Canceln ausfallen soll und wie wir sicherstellen, dass der angemessene Grad von den unbezähmbaren Massen niemals überschritten wird, muss die Cancel Culture abgelehnt werden. Ich wünsche der Gegenseite Glück dabei – ich denke nicht, dass es annähernd möglich ist.

Der vorherige Redner sagte, eine gecancelte Person könne ein erfolgreiches Buch über ihre Erlebnisse schreiben und sei dann nicht sonderlich geschädigt worden. Das bedeutet jedoch nichts weiter, als dass das Canceln nicht funktioniert hat. Wäre das Canceln erfolgreich gewesen, würde niemand das Buch lesen. Ich bin froh, dass mein Vorredner implizierte, man solle nicht für immer gecancelt werden. Doch können wir bitte genau festlegen, wie lange jemand gecancelt werden sollte und wie wir sicherstellen, dass ihm eine Anstellung und eine soziale Perspektive nicht für immer verwehrt bleiben?

Der erste Redner der Gegenseite sagte, die Cancel Culture sei ein effektives Mittel, um für Veränderung zu sorgen. Ich bin einverstanden. Doch es ist auch effektiv, sein Haus niederzubrennen, um Spinnweben unter dem Dach loszuwerden. Es ist auch effektiv, sich umzubringen, um Kopfschmerzen loszuwerden. Solches ist kaum angemessen. Es geht nicht darum, ob die Cancel Culture effektiv ist, das bestreitet niemand. Doch sollen wir wirklich glauben, dass das ihre Anwendung rechtfertigt, selbst wenn sie über das Angemessene hinausgeht?

Cancel Culture funktioniert nicht wie gewünscht

So viel zu den ethischen Rechtfertigungen der Cancel Culture – doch was ist mit den praktischen Rechtfertigungen? Funktioniert sie tatsächlich wie gewollt? Wieder ist die Antwort: Nein. Was geschieht, wenn man einem neugierigen Publikum sagt: “Hört dieser Person hier nicht zu, kauft ihr Buch nicht – wir lassen nicht einmal zu, dass ihr ihr Buch kauft. Denn was sie sagt oder früher einmal ohne Bezug dazu gesagt hat, ist einfach zu gefährlich”? Ganz sicher wird dies bei niemandem ein Interesse daran wecken, worum es bei all dem Aufruhr geht.

Ich muss doch sehr bitten: Es gibt kein weitreichenderes Mittel, sicherzustellen, dass die Leute Anstrengungen unternehmen, um jemandem ihre Aufmerksamkeit zu schenken, als ihnen zu sagen, sie dürften es nicht. Als vor der Oxford Union protestiert und der Eingang blockiert wurde, nachdem man Steven Bannon eingeladen hatte, wurde das Video seiner Ansprache auf YouTube geladen und erreichte eine der höchsten Klickzahlen in der Geschichte der Union. Ich denke nicht, dass diese Millionen von Klicks zustande gekommen wären, wenn der Cancelversuch und die anschließende Kontroverse nicht gewesen wären. Damit ist nichts darüber gesagt, ob es richtig war, Herrn Bannon einzuladen. Vielleicht war es das nicht. Doch jetzt ist die Frage: Waren die Versuche, ihn zu canceln, erfolgreich? Die Antwort ist: Nein.

Geschichtliche Personen als moralische Hellseher

Als letzter Punkt: Eine Implikation der auf die Geschichte gerichteten Cancel Culture ist, dass moralisches Hellsehen vorausgesetzt wird. Wir canceln nicht nur aktuelle öffentliche Personen für ihre Worte und Taten, sondern auch geschichtliche Personen. Das Titelbild der heutigen Veranstaltung zeigt eine Statue von Winston Churchill mit den aufgesprühten Worten “War ein Rassist”. Churchill war offensichtlich kein Musterbeispiel, was soziale Gerechtigkeit anbelangt; mit Recht verurteilen wir seine geschichtlichen Ausfälle und Vorurteile. Doch an diejenigen, die es für richtig halten, geschichtliche Personen für ihre ethischen Fehltritte zu canceln: Ich warne davor, mit welch verurteilenden Augen zukünftige Generationen Sie betrachten werden, wenn sich herausstellt, dass Sie selbst keine Verkörperung moralischer Perfektion waren. Es ist sehr klar, dass unsere heutige Gesellschaft Praktiken pflegt, auf die zukünftige Historiker mit Schrecken und Scham zurückschauen werden.

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Der offensichtlichste Kandidat hierfür ist unser aktueller Missbrauch von Tieren in der Massentierhaltung, damit wir den Geschmack ihres Fleisches und ihrer Sekrete genießen können. Massentierhaltungsbetriebe sind industrialisierte Maschinerien der Tierquälerei, und die Zukunft wird es für eine Schande halten, dass wir dies tatenlos tolerierten. Aber das ist ja nicht wirklich fair von mir, Sie sind ja ein guter Mensch, Sie tun gute Dinge, manchmal spenden Sie für gute Zwecke… Wir mögen einen “ethischen blinden Fleck” in der Hinsicht haben, aber wer kann uns dafür verurteilen? Wir sind doch auch nur Menschen. “Einen ethischen blinden Fleck?!“, höre ich die Zukunft antworten. “Die Massentierhaltung löste Pandemien und Antibiotika-Resistenzen aus, zerstörte unsere Gesundheit und unser Ökosystem und sorgte für die andauernde Folter von Tieren. Wie kann man das einen blinden Fleck nennen? Es zeigt eine unentschuldbare moralische Faulheit.”

Und stellen Sie sich vor: Das stimmt. Wir alle sind mitverantwortlich für unentschuldbare Vergehen, auf die man eines Tages mit Scham und Verachtung und Unverständnis darüber zurückblicken wird, wie es sein konnte, dass ansonsten moralisch vernünftige Menschen dies andauern ließen. Das wissen wir. Doch wenn es stimmt, dass geschichtliche Personen wegen ihrer ethischen Anachronismen gecancelt werden sollten, dann erwarten wir nicht nur, dass wir selbst alle für unsere schweren ethischen Fehler gecancelt werden, sondern wir sprechen uns aktiv dafür aus, dass dies passieren soll. Natürlich steht es Ihnen zu, diesen Standpunkt einzunehmen, mir geht es nur um Konsequenz. Doch tun Sie das, so erwarte ich mit Spannung den Tag, an dem Sie Ihre Mitmenschen davon überzeugen müssen, Statuen von Martin Luther King vom Sockel zu stoßen, weil er Fleisch aß. (…)

Was wollen wir wirklich?

Ich komme zum Ende: Denken Sie von der Gegenseite wirklich, dass die Cancel Culture Leute dazu animiert, Aussagen anzuerkennen und wieder gut zu machen, die sie in einer Zeit tätigten, seit der sie gewachsen sind und sich moralisch weiterentwickelt haben? Denken Sie, dass die Cancel Culture Leute dazu animiert, aktiv nach früheren Glaubenssätzen oder damals als angemessen wahrgenommenen Witzen zu suchen, um aus ihren Fehlern zu lernen und sich zu entschuldigen? Natürlich tut sie das nicht. Wenn wir die Leute gnadenlos canceln, wenn solche Dinge ans Licht kommen, und ihren Ruf für immer beschädigen, dann ist die einzige Folge, dass die Leute panisch versuchen, alle früheren Aufzeichnungen auszulöschen, aus Angst davor, dass der Mob sich dereinst in ihre Richtung dreht.

Sie müssen sich folgende Frage stellen: Wollen Sie, dass die Menschen sich Ihrem moralischen Ideal gemäß verhalten, weil sie Angst vor Konsequenzen haben, oder weil sie sich tatsächlich weiterentwickelt haben und es nun für erstrebenswert halten? So eine Entwicklung kann nur zustandekommen, meine Damen und Herren, wenn die Menschen die Möglichkeiten haben, das zu tun, ohne Angst haben zu müssen, dass ein Fehltritt einen nuklearen Angriff auslösen könnte.“

Die Rede im Original:

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