Das Wichtigste in Kürze:
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- Die effektive Präzisierung und Prüfung von Ideen funktioniert am besten über Ausformulieren und Diskurs. Social Media bot eine Riesenchance dafür, dies zu praktizieren.
- Die aktuellen Trends in der Debattenkultur sorgen dafür, dass immer weniger und immer schlechter ausformuliert und diskutiert wird.
- Wenn wir nicht begreifen, dass wir den Diskurs nicht über die bestehenden Gesetze hinaus regulieren sollten, wird sich die gesellschaftliche Gedankengärung immer weiter verschlechtern.
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Im letzten Post haben wir gelernt, wie Gedankengärung – die effektive Präzisierung und Prüfung von Gedanken – funktioniert. Daraus ergeben sich einige Lehren für die Themen Meinungs- und Redefreiheit, Social Media und Cancel Culture bzw. Konsequenzkultur.
„Gelegentlich, wenn wir an einem Problem selbst herumstudieren, sehen wir die Dinge plötzlich in einem neuen Licht oder aus einer anderen Perspektive (…) Doch dazu scheint es nicht sehr oft zu kommen. Bei den meisten von uns passiert es nicht jeden Tag oder jeden Monat, dass wir unsere Meinung zu einer moralischen Frage ändern, ohne dass das jemand anderes veranlasst.“ -Jonathan Haidt in The Righteous Mind
Gedankengärung könnte man definieren als den Prozess, durch den Gedanken präziser werden und sich zunehmend der Wahrheit annähern. Insofern handelt es sich eigentlich um effektive Meinungsbildung. Im letzten Beitrag haben wir beschrieben, wie dieser Prozess gefördert werden kann:
- durch Ausformulieren (Aussprechen/Aufschreiben), besonders intensiv durch Ausformulieren mit Verantwortlichkeit
- durch Diskurs, besonders intensiv durch Synthese mit einem Partner
Wenn wir nun darüber nachdenken, wie wir in unserer Gesellschaft die Gedankengärung der Leute fördern können, so wird eines klar: Die aufkommende Idee, dass „unausgegorene“ Gedanken nicht veröffentlicht werden sollten, ist brandgefährlich.
Social Media und die Angst vor den Gedanken
Dank Social Media können wir auf einmal viele Gedanken von Mitmenschen hören und lesen, die wir früher nicht mitbekommen haben. Es scheint, dass das viele sehr erschreckt. Da sieht man regelmäßig Leute, die haben ein anderes Verständnis von der Realität und von richtig und falsch. Da liest man ständig falsche und unangenehme Meinungen. Himmel, das ist ja furchtbar! Wir müssen dagegen vorgehen. Kampf den unausgegorenen Gedanken!
Einmal abgesehen davon, dass es naiv ist, zu denken, man könne einfach objektiv alles Falsche und Böse aus dem Internet entfernen: Wenn wir das im großen Stil versuchen – ob nun durch den Staat, durch Unternehmen oder die Kultur -, würgen wir damit die effektive Meinungsbildung unzähliger Menschen ab. Wir geben Menschen auf, die unausgegorene Gedanken haben. „Wer hier und heute nicht bei dem angekommen ist, was wir für wahr und gut halten, dem ist nicht zu helfen, und es ist unsere Pflicht, ihm das Maul zu stopfen, bevor jemand seine unausgegorenen Gedanken hört.“
Was dabei vergessen geht: Meinungs- und Redefreiheit sind die wichtigsten Ideen, die wir haben, da sie dazu dienen, alle anderen Ideen zu prüfen und in Schach zu halten. Wer sie zu weit einschränkt, geht ein unbeschreibliches Risiko ein.
Wie die effektive Meinungsbildung stirbt
Umfragen zeigen, dass die Menschen im Westen den öffentlichen Diskurs zunehmend als hasserfüllt und aggressiv wahrnehmen. Immer öfter behalten sie ihre Meinungen für sich und geben es auf, ihre Meinung zu sagen und zu diskutieren. Und das bedeutet, dass wir dabei sind, unsäglich wichtige Prozesse der Gedankengärung auszubremsen. Social Media sorgte anfangs dafür, dass Leute immer mehr Gedanken aussprechen/niederschreiben und in Diskurse eintreten. Sie sprechen/schreiben mit einer gewissen Verantwortlichkeit, was die effektive Meinungsbildung zusätzlich fördert. Es war eine Riesenchance für die intellektuelle und ethische Entwicklung der Menschen in unserer Gesellschaft. Doch jetzt wollen immer mehr Leute, dass es „Konsequenzen“ hat, wenn jemand einen aus ihrer Sicht unausgegorenen Gedanken äußert.
Diese Konsequenzen dürfen gerne weit über Kritik hinausgehen. Es geht einerseits ums Löschen, Blockieren und Sperren, andererseits darum, die Person, die ihre Gedanken geteilt hat, in eine gesellschaftlich verpönte Schublade zu stecken und an ihr mit rechtschaffenem Zorn ein Exempel zu statuieren, damit sie selbst und andere klar sehen, dass es nicht erwünscht ist, solche Gedanken zu äußern, wenn man sie hat. Man schwingt sich nicht nur zum pseudo-objektiven Richter über ausgegoren und unausgegoren auf, sondern kehrt unausgegorene Gedanken unter den Teppich, damit sie ja niemand sieht und dabei unangenehme Gefühle empfindet oder ihnen zustimmt. Sprechen, Schreiben und Diskutieren werden über die bestehenden Gesetze hinaus durchreguliert, und da all diese Dinge zum Denken gehören, wird de facto das effektive Denken illegitim und gefährlich eingeschränkt.
Der öffentliche Diskurs muss ungenau und unangenehm sein dürfen
Wer ein Meister sein will, der muss gewillt sein, erstmal ein Narr zu sein. Und wer will, dass die Leute wahrheitsgetreu und moralisch lobenswert denken, der muss ihnen die Möglichkeit zugestehen, sich falsch und zweifelhaft zu äußern. Wer meisterhafte Gedanken sehen will, muss erst einmal den Anblick von ungelenken Dummheiten ertragen lernen. Niemand kommt zur Welt und liegt in allem richtig und denkt nichts Anstößiges. Menschen denken oft falsch und zweifelhaft, und wenn das so ist, dann sollten wir es besser wissen, statt es einfach aus unserem Sichtfeld zu entfernen. Und wenn wir diese Gedanken adressieren und beeinflussen wollen, wenn wir wollen, dass sie gären, dann müssen wir ihnen Raum lassen.
Es muss in einer offenen Gesellschaft Rahmen geben, in denen jeder sagen darf, was er denkt, egal, wem es falsch und unangenehm vorkommt – solange er nicht zu Gewalt aufruft. Und wer das nicht ertragen kann, der soll sich nicht in einen solchen Rahmen hineinbegeben. Wir dürfen nie davon ausgehen, dass wir nicht falschliegen können, dass wir die ganze Wahrheit kennen oder dass unsere Ideen nicht diskutiert werden sollten. Ansonsten werden wir dogmatisch, verpassen Chancen auf Erkenntnis und Weiterentwicklung und riskieren letztlich die Lebendigkeit unserer Ideen, wie John Stuart Mill es in „On Liberty“ treffend erklärte. Das ist ein viel, viel zu hoher Preis für einen öffentlichen Safe Space.
Das vergessene Recht auf freie Meinungsbildung
„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.“ -Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 5
„Jede Person hat das Recht, ihre Meinung frei zu bilden und sie ungehindert zu äussern und zu verbreiten. Jede Person hat das Recht, Informationen frei zu empfangen, aus allgemein zugänglichen Quellen zu beschaffen und zu verbreiten.“ -Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Artikel 16
Gedankengärung ist auch Meinungsbildung, und darauf haben wir vernünftigerweise ein Recht, das nicht auf Basis willkürlicher subjektiver Befindlichkeiten bezüglich nicht demokratisch/gesetzlich legitimierter Ideen wie „Hassrede“ beschnitten werden darf. Und wenn Einzelne anhand solcher Konzepte für alle anderen entscheiden, was wahr und falsch und gut und böse ist und es ihnen auf dieser Basis vorenthalten, wird dieses Recht fundamental verletzt und die bestehenden Gesetze werden unzulässig überstrapaziert.
Die großen Social Media-Plattformen sind mittlerweile Arenen des öffentlichen Diskurses geworden; jede öffentlich zugängliche Kommentarspalte gehört zu dieser Arena. Und niemand, der öffentlich Inhalte verbreitet, sollte das Recht haben, über bestehende Gesetze hinaus den Diskurs zu seinen Inhalten anhand von Löschungen durchzuregulieren. Wenn die Plattformen, die öffentlichen Seiten und die cancelnden Gruppen so weitermachen, werden die Menschen immer weniger und immer schlechter nachdenken, immer weniger wissen, was andere denken, und das Verantwortlichkeitsgefühl beim Denken wird gegen Null tendieren, da die Plattformen ideologisch einförmig werden und alle praktisch nur noch unter Ihresgleichen sind.
Die Gedankengärung der Menschen wird sich dann weiter massiv verschlechtern – und das kann niemand wollen. Jetzt ist die Zeit, sich bewusst zu machen, warum wir den Diskurs nicht über die bestehenden Gesetze hinaus regulieren sollten. Wir helfen gerne dabei.
Zunächst einmal vielen Dank für Ihre Arbeit.
Über mich:
ich bin 27 Jahre alt, studiere Rechtswissenschaften an der Universität Osnabrück, habe den schriftlichen Teil meines Examens bestanden und werde in Kürze die mündliche Prüfung ablegen.
Wie ich auf Ihre Website aufmerksam wurde:
ich hatte mit einem meiner Kommilitonen neulich eine Debatte darüber wie weit die Meinungsfreiheit reichen sollte. Dabei führte mein Kommilitone einige Meinungen an, die er für öffentlich zu diskutieren inakzeptabel empfand. In Ansehung, dass er die Begründung seiner Meinung vernachlässigte, suchte ich ihm eine Stütze zu sein und lieferte ihm das, nur meiner Beobachtung zufolge von Politikern am häufigsten verwendete Argument nach, dass bestimmte Meinungen eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen. Nachdem mein Kommilitone erklärte, dass dies das Argument war, dass er suchte, stellte ich die These auf, dass Politiker dabei nicht selten, ohne es als solches zu benennen, das Toleranz-Paradoxon zu ihrer Argumentation bemühen, ohne dies genauer zu reflektieren und dabei verkennen, dass die Prämissen, die das Toleranz-Paradoxon stellt, bei dem konkreten Diskusionsgegenstand nicht vorliegen. Da meinem Kommilitonen und seiner Freundin das Toleranz-Paradoxon kein Begriff gewesen ist, sah ich es als meine Pflicht ihnen einen Artikel zuzusenden, der dies erklärt. Nach meiner Recherche entschied ich mich für den von Ihnen verfassten Artikel.
Warum?:
ich stellte für den Artikel, den ich zur Aufklärung empfehlen wollte, zwei Voraussetzungen auf.
– 1. Voraussetzung: der Artikel sollte so kurz wie möglich,
weil Informationen, die für die Meinungsbildung über diesen Gegenstand nicht relevant sind, von diesem Gegenstand ablenken und für die Meinungsbildung über diesen Gegenstand keinen Mehrwert haben. Zudem gilt es in der heutigen Zeit Schritt zu halten mit Artikeln, die nicht zum Ziel haben, dass sich der Leser seine eigene Meinung bildet, sondern dem Leser die Meinung des Verfassers aufzunötigen versuchen, wobei Verfasser solcher Artikel häufig kurz formulieren und sich so die kurze Aufmerksamkeitsspanne von Menschen zunutze machen. Diese Voraussetzung wurde von allen Artikeln genommen. Sie war von dem von Ihnen verfassten Artikel sogar schwieriger zu erreichen, als von Artikeln, die auf mich einen meinungsindizierenden Eindruck machten. Allerdings scheiterten diese an der 2. Voraussetzung.
– 2. Voraussetzung: der Artikel sollte so objektiv wie möglich sein.
Dazu gehört zum einen, dass der Artikel unterschiedliche Meinungen zu dem behandelnden Gegenstand darstellt, einschließlich ihrer Begründung. Daran scheiterten die meisten Artikel. Andere Artikel schafften es allerdings unterschiedliche Meinungen aufzugreifen. Deshalb gehört zum anderen dazu, dass der Artikel nicht bei Behandlung einer Meinung nur positiv konnotierte Wörter, bei der Darstellung einer anderen Meinung aber nur negativ konnotierte Wörter verwendet. Diese Voraussetzung erfüllte im Rahmen meiner Recherche nur der von Ihnen verfasste Artikel über das Toleranz-Paradoxon, in dem Sie auch auf die Risiken von dessen Missbrauch aufmerksam machten.
Warum schreibe ich Ihnen das?:
Keine Ahnung, ob Sie „mailab“ kennen, aber ich sah jüngst ein Video von Frau Dr. Mai Thi Nguyen-Kim, in dem sie die Seher ihrer Videos dazu aufforderte, Menschen, die guten Content liefern, mitzuteilen, dass diese Menschen eine gute Arbeit machen, weil zum einen es diese Menschen motivierte weiterzumachen, und zum anderen anderenfalls durch die Funktionsweise von Algorithmen im Internet dieser Content ein Schattendasein fristet gegenüber dem Content, der von Menschen geschaffen wird, die ihre Meinung als Wahrheit betrachten, wodurch deren Meinung medial auch stärker vertreten ist.
Beste Grüße:
Ich wünsche Ihnen jedenfalls viel Erfolg. Ich für meinen Teil habe auch nach meiner Recherche über das Toleranz-Paradoxon weiter Zeit auf Ihrer Website verbracht und einige spannende Artikel gefunden. Witzig an der Stelle fand ich, dass Sie in der Einleitung zu den Denkfehlern Rolf Dobelli zitierten, denn dessen Bücher über Denkfehler wurden uns im Studium schon von unserem Prof. für Recht und Ökonomik empfohlen und ich hatte diese schon vor dessen Empfehlung gelesen und war danach der Ansicht, dass dies Pflichtlektüre in jeder Schule sein sollte.