Jenseits des Überzeugens – Was bringt es, zu diskutieren?

Das Wichtigste in Kürze:

      • Viele Menschen sind verständlicherweise frustriert, was Diskussionen über emotionale Themen angeht. Wir sollten aber nicht deshalb aufhören, zu diskutieren, weil sich andere selten an Ort und Stelle überzeugen lassen.
      • Es gibt außer dem sofortigen Überzeugen verschiedenste positive Ergebnisse einer Diskussion, darunter Wissen über Andersdenkende, Nachdenken durch Ausformulieren und Verantworten, Einfluss auf Zuhörende/Mitlesende, Differenzierung durch Akzeptieren von Teilaussagen anderer, das Punkten auf der menschlichen Ebene oder die Reduktion der Gewissheit.
      • Diskussionen, bei denen niemand am Ende seine Meinung geändert hat, sind selten nutzlos. Und nicht vergessen: Meinungsänderung in großen, emotionalen Fragen dauert!  

 

Selbst wenn am Ende einer Diskussion niemand seine Meinung geändert hat, kann sie wertvoll gewesen sein. 

Das wirkt auf dich wie eine steile These? Dann bist du nicht allein. Wir erhalten oft den Eindruck, dass beim Thema Diskussion über emotionale Themen viele Leute primär frustriert sind. Und wir sehen täglich, dass es dafür gute Gründe gibt. Es gibt aber auch einen weniger guten Grund dafür: die Idee, dass eine Diskussion nur dann sinnvoll war, wenn am Ende jemand (am besten der andere) seine Meinung geändert hat.

Wenn du manchmal diskutierst, dann wirst du bestimmt schon Diskussionen erlebt haben, die total in die Hose gingen. Dein Partner zeigte sich unkooperativ und war nicht offen dafür, deinen Standpunkt zu übernehmen. Das ist frustrierend – doch wenn Leute aus diesem Grund weniger oder gar nicht mehr über schwierige Themen diskutieren, ist das enorm schade. Und warum, das wollen wir in diesem Beitrag festhalten. Was kann eine Diskussion außer einer sofortigen Meinungsänderung an Positivem bewirken?

1. Wissen über Andersdenkende

Wie oft bekommen wir die Ansichten Andersdenkender nur in kleinen Häppchen übermittelt, oft auch noch von jemandem, der auf unserer Seite steht und ohne Kontext und mit der einen oder anderen Verzerrung die Ansichten von jemandem widerlegt, der nicht da ist. So ist die Gefahr riesig, dass wir die Gegenseite missverstehen. Die Folge: Wir haben ein falsches Bild von den Ansichten anderer und argumentieren gegen Strohmänner, die niemand oder nur eine extrem kleine Minderheit vertritt. Das bringt niemandem was.

Wissen ist Macht! Wenn du aus erster Hand weißt, was Andersdenkende denken und sagen, wie sie auf deine Einwände reagieren, dann kannst du deine eigenen Argumente so schärfen, dass sie tatsächlich das treffen, was andere denken. Wenn eine Diskussion also eher mies verläuft, dann kannst du immer noch versuchen, etwas über die andere Person und ihre Ideen zu lernen. Und nicht vergessen: Auch dein Gegenüber kann etwas über deine Sichtweise lernen und neue Argumente kennenlernen, auch wenn es im ersten Moment nicht darauf eingeht oder nur darüber lacht.

2. Es wird ausformuliert und verantwortet

Das hatten wir in unseren letzten beiden Artikeln behandelt: Schreiben und sprechen, insbesondere vor anderen, ist ein Teil des Denkprozesses. Wenn du dein Gegenüber ins Nachdenken bringen willst, dann hast du das also schon geschafft, wenn du es nur dazu bringst, seine Gedanken in Erwartung deines Feedbacks auszuformulieren.

Siehe auch:
Abkanzelungstechniken am Beispiel Greta Thunberg

Leider kommt es natürlich auch vor, dass Leute etwas Vorgefertigtes ausspucken, wenn du mit ihnen diskutierst, was diesen Effekt abschwächt. Aber auch das ist besser, als wenn sie ihre Gedanken gar nicht auf den Punkt bringen müssen bzw. das nicht vor Andersdenkenden tun müssen. Die höchsten Chancen auf möglichst freies Denken hast du laut der Forschung dann, wenn sich dein Gegenüber mit einer Frage beschäftigt, zu der es noch keine abschließende Meinung hat, wenn es deine Position zu dieser Frage nicht kennt und davon ausgeht, dass du informiert und an Richtigkeit interessiert bist.

Und nicht vergessen: Auch dich selbst bringt es weiter, wenn du Gedanken in Erwartung von Feedback ausformulierst. Das hält deine Überzeugungen frisch und hilft dir, sie noch besser zu erfassen und zu verteidigen. Oder wie John Stuart Mill schrieb:

3. Wer zuhört/mitliest, denkt mit

Eine Diskussion unter vier Augen hat den Vorteil, dass niemand Angst hat, sich vor mehreren Leuten zu blamieren. Wenn eine Diskussion nicht unter vier Augen stattfindet, dann hat das wiederum den Vorteil, dass sich ihr Nutzen unbemerkt vervielfältigen kann. Auch wenn dein Gesprächspartner nicht offen dafür ist, seine Meinung hier und heute anzupassen: Es könnte jemand mitlesen/zuhören, der dafür offener ist. Gerade als stiller Mitleser/Zuhörer ist man dafür in einer hervorragenden Ausgangslage, da man selbst nicht auf dem heißen Stuhl sitzt. Das ist auch ein hervorragender Ansporn dazu, sich in einer Diskussion zivilisiert zu verhalten, denn wer gelassen und fair bleibt, punktet häufig beim Publikum.

„Manchmal weiss ich praktisch ohne Zweifel, dass nichts, was ich sage, am Glauben meines Gesprächspartners etwas ändern wird. Ich tue es nicht diesen Leuten zuliebe, ich tue es für diejenigen da draussen, die zusehen und hin- und hergerissen oder verunsichert sind, diejenigen, die offener sind für Vernunft und Argumente.“ -Matt Dillahunty

4. Zusätzliche Teile der Wahrheit entdecken

Manchmal erliegen wir der Illusion, dass die Wahrheiten, die wir kennen, die ganze Wahrheit zum jeweiligen Thema sind. Wir liegen richtig, und darum muss alles Weitere, was zu diesem Thema gesagt wird, falsch sein. Doch dem ist nicht immer so. Und wenn wir herausfinden wollen, ob dem so ist, dann lohnt es sich oft, mit anderen zu diskutieren. Das ist ein weiterer möglicher Gewinn aus einer Diskussion, der nicht darin besteht, dass jemand seine Meinung ändert: Man akzeptiert einen Teil der Äußerungen der Gegenseite und die eigene Meinung wird differenzierter.

Es stimmt zum Beispiel, dass Frauen Familie oft wichtiger ist als Karriere. Es stimmt auch, dass Frauen in der Berufswelt von Individuen und auch strukturell Hindernisse in den Weg gelegt bekommen, mit denen sich Männer nicht oder weniger herumschlagen müssen. Wer anhand nur einer dieser beiden Tatsachen den Anteil und Erfolg von Frauen in der Berufswelt erklären will, wird einen wichtigen Teil des Puzzles übersehen, obwohl er richtig liegt. Auch wenn jemand seine Meinung zu dieser Thematik nach einer Diskussion nicht ändert – wenn er ein neues Teil des Puzzles kennengelernt hat, hat die Diskussion etwas gebracht.

Siehe auch:
Intoleranz nicht tolerieren - was das Toleranz-Paradoxon wirklich meint

5. Punkte auf der menschlichen Ebene

Wenn du dich in einer Diskussion besonders zivilisiert und entgegenkommend verhältst und deine guten Absichten glaubwürdig signalisieren kannst, dann kann das viel bewirken, auch wenn dein Gegenüber nicht sofort seine Meinung zum Thema ändert. Oft haben die Leute bei emotionalen Fragestellungen ein recht düsteres Bild von der Gegenseite. Man vermutet üble Absichten, höchste Dummheit und Unmenschlichkeit. Daher ist es bereits ein großer Gewinn, wenn du dieses Bild mit redlichem Betragen und echter Freundlichkeit relativieren kannst. Dein Gegenüber wird dadurch offener und erhält vielleicht ein klein wenig von seinem Glauben an die Menschheit zurück.

6. Reduktion der Gewissheit

Der „Street Epistemologist“ Anthony Magnabosco fragt draußen Leute zu beliebigen Glaubenssätzen aus, ganz ähnlich wie damals Sokrates am Athener Markt. Dass Leute ihre Meinung an Ort und Stelle ändern, kommt selten vor. Was aber häufig vorkommt, ist eine Reduktion der erkenntnistheoretischen Sicherheit. Zu Beginn des Gespräches fragt Magnabosco, wie sicher sich die Leute der Wahrheit ihres Glaubenssatzes sind, auf einer Skala von 1-10. Die meisten Leute beginnen bei 9 oder 10. Am Ende des Gesprächs werden sie nochmal gefragt – und es ist nahezu immer eine deutliche Reduktion zu beobachten.

Auch wenn sich die Meinung in einer Diskussion nicht ändert, kann sich unbemerkt die Gewissheit der Beteiligten verringern, wodurch ihre Offenheit steigt. Das ist ein großer Erfolg. Schaut mal bei Anthony Magnaboscos Tätigkeit rein!

Fazit: Sofortige Meinungsänderung ist nicht alles!

Es gäbe bestimmt noch mehr zu sagen. Die Moral von der Geschicht‘: Lasst euch nicht entmutigen, wenn euer Gesprächspartner seine Meinung nicht gleich ändert. Es gibt viele weitere positive Dinge, die durch die Diskussion passiert sein können. Und vor allem dürft ihr eins nicht vergessen:

Je emotionaler und größer das Thema, desto länger dauert es gewöhnlich, wenn jemand seine Meinung dazu ändert.

Erkenntnistheoretischer Fortschritt in richtig großen Angelegenheiten passiert fast immer in kleinen Schritten über Wochen, Monate und Jahre. Wir selbst hatten immer wieder Diskussionen, in denen wir uns gegen außen keinen Millimeter bewegten, die uns aber langfristig nachhaltig beeinflussten und wichtige Schritte auf dem Weg zu einer differenzierteren Meinung oder sogar einer richtiggehenden 180 Grad-Drehung waren. Die oben genannten Punkte sind kleine Effekte, die für sich positiv sind, die aber auch zu einer langfristigen Meinungsänderung beitragen können.

Und wenn ihr keinen Lust mehr auf so viel Frust beim Diskutieren habt und alles aus Diskussionen herausholen wollt, dann schaut euch unbedingt diese Sachen hier unten an:

Unmögliche Gespräche führen, Teil 1: Die 7 Grundlagen

Danke für’s Lesen, viel Spaß & Erfolg!

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