Verwechsle Ideen nicht mit ihren Anwälten!

Das Wichtigste in Kürze:

      • Das Bild, das wir von vielen Ideen haben, hängt zu einem Großteil davon ab, wer uns bisher als Anwalt dieser Ideen begegnet ist, wie sympathisch uns diese Leute waren und was für einen Job sie als Anwälte gemacht haben.
      • Es ist klar, dass die Schuld eines Angeklagten nicht von der Leistung seines Anwalts abhängt. Wir sollten also eine Idee nicht aufgeben, nur weil es Anwälte gibt, die sie suboptimal verteidigen.
      • Um möglichst viel zu lernen, sollten wir es uns zum einen angewöhnen, die Aussagen anderer von ihren Persönlichkeiten und Formulierungen zu trennen und Stahlmänner daraus zu machen – und zum anderen sollten wir uns die besten Anwälte einer Idee suchen.  

 

Hängt die Schuld eines Angeklagten von seinem Anwalt ab?

Ich denke, wir sind uns einig: Nein. Ob jemand tatsächlich schuldig ist oder nicht, liegt nicht daran, wer ihn auf welche Art und Weise verteidigt. Letzteres mag zwar entscheidend beeinflussen, ob er schuldig gesprochen wird oder nicht. Doch ob er tatsächlich schuldig ist, bestimmen die Tatsachen – unabhängig davon, welche davon der Anwalt vorbringt und auf welche Weise er das tut. Würde jemand als definitiven Beweis der Schuld oder Unschuld eines Angeklagten anführen, dass der Angeklagte gut oder schlecht verteidigt wurde, so wäre das ein Fehlschluss.

Das Problem ist nur: Oft bleibt uns nicht viel mehr als die Verteidigungsrede des Anwalts. Zu manchen Tatsachen haben wir womöglich selbst keinen Zugriff oder uns fehlen schlicht Zeit und/oder Fachkompetenz, um sie untersuchen zu können. Und dieses Problem gibt es auch, wenn nicht Menschen, sondern Ideen auf der Anklagebank sitzen und verschiedenste Menschen die Funktion ihrer Anwälte übernehmen.

Wir sehen Menschen, nicht Ideen

Menschen sind soziale Wesen, und darum interessieren uns Menschen generell etwas mehr als Ideen. Folglich ist es auch kein Wunder, dass es in gesellschaftlichen Debatten vorrangig um die Menschen geht, die Anwälte bestimmter Ideen sind (oder angeblich sein sollen), statt um die Ideen selbst. Es geht um Politiker und Aktivisten, um Wissenschaftler und Philosophen, um Aufklärer und Propagandisten, um Verteidiger, Kritiker, Leugner, Hetzer und viele weitere Akteure. Sie alle sind Anwälte bestimmter Ideen. Es stellt sich die Frage: Worauf sollten wir unseren Fokus richten, auf die Anwälte oder die Ideen?

Als soziales Wesen ist es naheliegend, sich vorwiegend mit den Anwälten zu beschäftigen, denn die sind nicht abstrakt, sondern physisch real. Mit ihnen interagiere ich, ich kooperiere mit ihnen in einer Gruppe oder stelle mich mit meiner Gruppe gegen sie. Ich schätze ein, ob sie gute oder schlechte Menschen sind, und wünsche mir, dass ihre soziale Stellung sich bessert oder verschlechtert. Doch wenn diese Ebene dermaßen dominant wird, passiert sehr leicht ein Fehler: Wir verwechseln Ideen mit ihren Anwälten.

Ideen anhand ihrer Anwälte bewerten

Menschen bewerten Ideen generell anhand der Menschen, die ihnen bisher als ihre Anwälte begegnet sind. Wenn dir Wahrheitssuche und Dazulernen wichtig sind, ist diese Erkenntnis unbeschreiblich wichtig:

Die Meinung, die du von Kapitalismus und Kommunismus, von Religion und Atheismus, von rechter und linker Politik usw. hast, beruht zu einem Großteil darauf, welche Leute dir bisher als Anwälte dieser Ideen begegnet sind, wie sympathisch dir diese Leute waren und was für einen Job sie als Anwälte gemacht haben.

Ist das zu kritisieren? Nun ja – es ist absolut verständlich, denn wir haben oft gar nicht die Zeit und/oder Möglichkeiten dazu, uns aktiv selbst weitere Tatsachen oder mehr Anwälte zu suchen, die uns Tatsachen vorlegen, die uns bisher noch niemand vorgelegt hat. Wenn wir effektive Wahrheitssucher und Dazulerner sein wollen, müssen wir uns unsere Tendenz zum sogenannten Fehlschluss-Fehlschluss vor Augen führen. Sie bedeutet, dass wir Ideen häufig deswegen verwerfen, weil uns immer wieder inhaltlich schlechte oder suboptimal formulierte Verteidigungen dieser Ideen über den Weg gelaufen sind. Häufig verfeinden wir uns auch gegen eine Idee, weil sich viele ihrer Anwälte unsympathisch verhalten haben, weil sie z.B. übertrieben haben oder arrogant waren.

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3 falsche Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit, die gerade herumgeistern

Doch nur, weil ein Angeklagter viele schlechte Anwälte hat, muss das nicht bedeuten, dass er schuldig ist. Wenn wir ein wenig darüber nachdenken, werden wir schnell feststellen, dass erstens auch wir selbst nicht immer sauber, fundiert, fair und sachlich unsere Positionen verteidigen und dass man auch die wahrsten, besten Ideen grottenschlecht verteidigen kann. Wir selbst würden uns wünschen, dass Andersdenkende sich davon nicht aufhalten lassen, wenn es darum geht, unsere Ideen kennenzulernen und einzugestehen, in welcher Hinsicht sie zumindest berechtigte Fragen aufwerfen. Warum also dieses Wasser nicht nur predigen, sondern auch trinken?

Zwei Regeln, um das Wesentliche im Blick zu behalten

Was eine Idee wirklich ist und welche Argumente es dafür oder dagegen gibt, hängt nicht von bestimmten Anwälten dieser Idee ab. Die Idee und die Argumente dafür und dagegen existieren auch abstrakt, unabhängig von diesen Menschen sowie der Art und Weise, wie diese sie darstellen. Menschen haben begrenztes Wissen und sind emotional, und es wäre schade, wenn wir uns dadurch davon abhalten lassen, zu verstehen und dazuzulernen. Deswegen bieten sich zwei Handlungsempfehlungen an, wenn wir effektivere Wahrheitssucher und Dazulerner sein wollen:

1. Stahlmänner zur Gewohnheit machen

Karl Poppers erste Regel für diejenigen, die von ihren Mitmenschen lernen wollen, lautet: „Jeder hat das Recht auf die wohlwollende Auslegung seiner Worte.“ Das schrieb Popper nicht, weil alle Menschen immer so toll und lieb und klug sind. Er schrieb es, weil wir am meisten lernen, wenn wir Aussagen von den Menschen trennen, die sie getätigt haben, wenn wir sie uns vorstellen, als stünden sie auf einem Blatt Papier. Und dann überlegen wir uns die widerstandsfähigste Formulierung oder Interpretation dieser Aussagen, die wir uns ausdenken können – nicht zwingend, um dem anderen einen Gefallen zu tun, sondern primär uns selbst und der Gesamtdebatte. Das ist das Gegenteil von einem Strohmann; ein Stahlmann.

Das kann etwa so aussehen:

Aussage: „Die Impfpolitik der Schweiz ist eine Vergewaltigung der Bevölkerung.“

Diese Aussage könnte man sehr leicht zerpflücken. Man kann sich mit Recht über die drastische Wortwahl echauffieren, die Geschmacklosigkeit des Vergleichs anklagen, mit spitzer Feder aufzeigen, warum es von A bis Z falsch ist, so einen Satz zu sagen. So kann man einen ungeliebten Ideenanwalt abschießen und bei der eigenen Peergroup Punkte sammeln. Dazugelernt hat man aber gar nichts und die Chance auf ein lehrreiches Gespräch, ein akkurates Verständnis von der anderen Seite und ein Erkennen möglicherweise berechtigter Punkte sinkt rapide gegen Null.

Stahlmann: „Manche Menschen empfinden die Schweizer Impfpolitik als eine unrechtmäßige Grenzüberschreitung.“

Mit einem Stahlmann heben wir unseren Blick vom Anwalt zum Angeklagten, zur Idee, die durch die Person in das Gespräch gekommen ist. Wir machen uns klar, dass es nicht darum geht, der verteidigenden Person einen Gefallen zu tun oder nicht, sondern darum, ob der dahinterstehende Angeklagte schuldig ist, ob an der Grundidee etwas dran ist, was wir wissen sollten. Nachdem wir gewissermaßen die Arbeit des Anwalts optimiert haben, sehen wir eine Aussage vor uns, die uns mehr abverlangt und folglich auch eine produktivere Auseinandersetzung ermöglicht. Wir haben jetzt die Chance maximiert, die Idee der anderen Seite differenziert zu verstehen, den wahren oder vielleicht einfach interessanten Anteil daran zu entdecken und angemessen darauf zu antworten.

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Nazikeule & Co.: Schubladendenken erklärt + 5 Vorschläge dagegen

2. Die besten Anwälte suchen

John Stuart Mill schrieb in „Über die Freiheit“ Folgendes zur Debattenkultur:

„Wenn nicht Argumente für Demokratie und Aristokratie, Besitz und Gleichheit, Kooperation und Wettbewerb, Luxus und Abstinenz, Sozialität und Individualität, Freiheit und Disziplin und alle anderen vorhandenen Gegensätze des praktischen Lebens mit gleicher Freiheit geäußert und mit gleichem Talent und gleicher Kraft durchgesetzt und verteidigt werden, können nicht beide Elemente erhalten, was ihnen zusteht. Die eine Waagschale wird sich heben, die andere sich senken.“ (Hervorhebung durch uns)

Jedem Angeklagten steht ein guter Anwalt zu – und auch jeder Idee. Wir wissen nicht alles, und daher können wir noch einiges lernen. Es kann gut sein, dass an einer von uns verschmähten Idee Wahres und Wichtiges dran ist, das wir noch nie gehört haben, und das sollte zutage gefördert werden. Wenn wir das wollen, sollten wir nach den besten Anwälten suchen, die es gibt. Nach Menschen, die gut informiert und sprachlich begabt sind, die zeigen, dass sie intellektuell redlich und differenziert diskutieren. Es kann sein, dass tausende Menschen eine Idee grauenhaft schlecht verteidigen, aber ein paar wenige sie hervorragend verteidigen können, ohne zu täuschen, zu übertreiben oder zu manipulieren.

Fazit

Leute sind nicht Ideen, und Debatten sind nicht nur Konflikte zwischen Menschen, sondern auch zwischen Ideen. Wenn wir dazulernen wollen, sollten wir uns das immer wieder klarmachen. Ich kann Wahrheit und Wert einer Idee nicht an bestimmten Anwälten dieser Idee festmachen. Wenn ich alles aus einer Idee lernen will, was es zu lernen gibt, dann sollte ich Aussagen anderer Diskursteilnehmer von ihren Persönlichkeiten und Formulierungen trennen und so wohlwollend behandeln wie nur möglich – und ich sollte nach Leuten suchen, die so gute Anwälte sind, dass das kaum noch nötig ist. Wir brauchen die Weisheiten verschiedener Denkrichtungen, und es wäre einfach zu schade, wenn wir gewisse Ideen einfach rundum verurteilen, weil wir bisher vor allem schlechte Anwälte dafür gesehen haben.

Lass dich nicht von ignoranten Kreationisten davon abhalten, mehr über Religion zu lernen. Lass dich nicht von bornierten Rechten oder verrückten Linken davon abhalten, den Wert konservativer und progressiver Denkweisen zu erkennen. Konzentrieren wir uns gelegentlich weniger auf die Leute, die heute gerade im Rampenlicht stehen, weil sie sehr öffentlichkeitswirksam als Anwälte bestimmter Denkweisen auftreten. Überlegen wir uns stattdessen, welche Ideen hinter ihnen stehen und was es über diese Ideen noch so alles zu lernen geben könnte. Das kann uns den Weg freimachen zu einem Meer an Aha-Erlebnissen, zu besseren Gesprächen und mehr Weisheit.

„Wer nur die eigene Seite einer Debatte kennt, weiß wenig darüber. Er mag gute Begründungen haben, und vielleicht konnte sie noch niemand widerlegen. Wenn er aber ebenso unfähig ist, die Begründungen der Gegenseite zu widerlegen, wenn er sie nicht einmal kennt, so hat er keinen Grund, eine Ansicht der anderen vorzuziehen. Es reicht auch nicht, dass er die Ansichten der Gegenseite von seinen eigenen Gelehrten hört, von ihnen formuliert und von dem begleitet, womit sie sie zu widerlegen suchen. Er muss die Möglichkeit haben, sie von Leuten zu hören, die sie tatsächlich glauben. Er muss sie in ihrer plausibelsten und überzeugendsten Form kennen.“ – John Stuart Mill in Über die Freiheit

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