Inoculation Theory: Wie Social Media uns gegen Ideen impft

Das Wichtigste in Kürze:

      • Man kann Menschen nicht nur gegen Erreger, sondern auch gegen Meinungen impfen, indem man ihnen abgeschwächte Argumente für diese Meinungen vorsetzt. Diese Idee ist in der Psychologie als Inoculation Theory bekannt und wurde experimentell belegt.
      • Social Media funktioniert primär über Empörung. Deswegen werden uns dort etliche verzerrte und extreme Aussagen vorgesetzt, was uns gegen so manche Position impft. So entwickeln wir eine Allergie gegen Gegenpositionen und ein verdrehtes Bild von unseren Mitmenschen.
      • Um dem Problem beizukommen, müsste wohl am Monetarisierungmodell in den sozialen Medien etwas geändert werden. Auf der individuellen Ebene braucht es den Willen, die Dinge klar zu sehen, und Methoden wie Stahlmänner und Berücksichtigung der besten Ideenvertreter, um darauf hinzuarbeiten. 

 

Man kann Menschen nicht nur gegen das Coronavirus impfen, sondern auch gegen Meinungen. Das hat die psychologische Forschung gezeigt, und diese Art der kognitiven Impfung wird nicht nur von Eminem im Film 8 Mile, sondern z.B. bei der Drogenprävention eingesetzt. Und auch Social Media führt häufig zu einer Impfung der User – und die verhärtet aktuell wieder einmal enorm die Fronten und sät ordentlich Zwietracht.

Das Grundprinzip einer Impfung, grob vereinfacht: eine abgeschwächte Dosis eines Erregers wird in den Körper injiziert, damit dieser den Erreger kennenlernt und spezifische Abwehrkräfte produzieren kann. Dadurch kann er diese Gefahr künftig schnell erkennen und auch stärkere Angriffe vernichtend abwehren. Was hat das nun aber mit Ideen zu tun?

Inoculation Theory in der Psychologie

Die Psychologie hat festgestellt, dass man Menschen auch gegen Ideen „impfen“ kann. In ihrem Artikel „Persuading Others to Avoid Persuasion: Inoculation Theory and Resistant Health Attitudes“ (2016) entwickeln Compton et. al. eine Idee weiter, die McGuire (1964) begründet hatte:

„McGuire (1964) stellte die These auf, dass Personen, die einer Überzeugungsbotschaft ausgesetzt sind, die abgeschwächte Argumente gegen eine vorhandene Einstellung enthält (z. B. eine zweiseitige Botschaft oder eine Botschaft, die sowohl Gegenargumente als auch Widerlegungen dieser Gegenargumente enthält), eine Resistenz gegen stärkere, zukünftige Überzeugungsangriffe entwickeln.“ (eigene Übersetzung)

Diese These wurde z.B. so getestet: Jugendliche sollten vom Rauchen abgehalten werden. Zu diesem Zweck warnte man sie davor, dass manche sie davon überzeugen wollen würden, mit dem Rauchen anzufangen, konfrontierte sie dann mit simplen „Gegenargumenten“, die von diesen Leuten kommen würden (z.B. „Rauchen ist nicht ungesund“) und widerlegte diese dann (Pfau et. al. 1992). Mittlerweile weiß man: Dieses Impfen hat messbare Effekte. Die Metaanalyse von Banas & Rains (2010) zeigte, dass damit tatsächlich meist eine Resistenz gegenüber einer Meinungsänderung erzeugt werden kann, besser als durch unterstützende Botschaften und Kontrollen ohne Behandlung.

Es gibt ein eindrückliches Beispiel für so eine kognitive Impfung aus der Popkultur: Wer den Film 8 Mile gesehen hat, der wird sich womöglich noch erinnern, wie Eminem das finale Rapbattle dadurch gewann, dass er das Publikum gegen die möglichen Angriffe seines Gegners impfte. Kommen wir nun auf Social Media zu sprechen: Was ist hier das Problem?

Siehe auch:
Weisheit, Kapitel 2: Die Reise planen und vorbereiten

Zerrbilder und Extrempole

Social Media ist in den Worten von Sozialpsychologe Jonathan Haidt eine „Outrage Machine“, ein Empörungsapparat. Posts, die starke emotionale Affekte auslösen, erreichen nachvollziehbarerweise die höchste Reichweite in den sozialen Netzwerken, wie etwa eine Untersuchung von Berger & Milkman (2013) zeigte. Wut steht dabei auf Rang 1, wie etwa Fan et. al. (2013) herausfanden. Auch stellten Brady et. al. (2021) fest, dass so mancher Account das positive Feedback auf seine Posts durch das Ausdrücken von moralischer Empörung um 100% oder weit mehr steigern kann – und das erhöht nachweislich die Wahrscheinlichkeit, dass diese Accounts zukünftig noch mehr wütende Parolen posten.

Was wir auf Social Media also häufig antreffen, sind Posts, die uns wütend machen (sollen) – das lohnt sich für die Accounts und folglich auch die Plattformen am meisten. Folgerichtig sieht man auf Social Media häufig übermäßig und unredlich vereinfachte, von Kontext und Erklärung befreite Repräsentationen von Ideen zu heißen Themen. Hinzu kommen krasse Äußerungen von den extremen Rändern des Meinungsspektrums. Dafür werden die User, die Medien, die Blogger und YouTuber am meisten belohnt – und das bedeutet, dass unsere Gehirne zur Meinungsbildung heutzutage oft eine extrem ungesunde Ernährung bekommen; eine Ernährung, die uns gegen Offenheit und Neugier gegenüber anderen Meinungen impft.

Geimpft und allergisch dank Facebook, Twitter & Co.

Das Institut More in Common fand heraus, dass die Menschen in den USA die Häufigkeit von als „extrem“ definierten Meinungen heutzutage stark überschätzen. Dazu trägt Social Media entscheidend bei: Dort erhalten wir täglich ein Buffet von extremen und abgeschwächten Formen von Ideen, von unannehmbaren, erzürnenden Aussagen von Andersdenkenden. Gemäß der Inoculation Theory passiert also Folgendes: Wir werden gegen eine Meinungsänderung in Richtung dieser Ideen resistent gemacht – auch gegen bessere Argumente für diese Ideen. Besonders von der Gegenseite bei heißen Themen haben wir oft ein Bild, das primär auf kontextfreien Fragmenten und Extremaussagen basiert. Wir nehmen dieses Bild als repräsentativ wahr und entwickeln eine Resistenz, quasi eine grundsätzliche Allergie gegen alles, was nach der Gegenposition riecht.

Wer über Linke oder Rechte, Patrioten oder Aktivisten für soziale Gerechtigkeit, Gläubige oder Atheisten, Massnahmenbefürworter oder -gegner stets nur das Schlimmste hört, die verrücktesten Vertreter vorgesetzt bekommt (Nutpicking), ihre Argumente nur in verzerrten Schnipseln kennenlernt, der wird eine Resistenz oder sogar eine regelrechte Allergie gegen ganze Ideengebäude entwickeln, die eigentlich nie nur Blödsinn und Bosheit beinhalten. Das kann so weit gehen, dass man jede Aussage und jede Person, die nicht klar auf der eigenen Seite einzuordnen zu sein scheint, sofort in die Gegnerschublade steckt und als Inbegriff der Dummheit und Bosheit abstempelt. Wir sehen andere Positionen als lächerliche und gefährliche, völlig einförmige Strohpuppen – die entweder gar keine oder nur sehr wenige Menschen tatsächlich vertreten.

Wie groß ist das Problem – und was ist sein Ursprung?

Social Media trägt stark dazu bei, dass wir zunehmend denken, dass es außer uns und unseren Gleichgesinnten nur Vollidioten und Teufel auf der Welt gebe. Viele sehen kaum mehr Wert in Meinungsfreiheit, Meinungspluralität und Dialog, im Gegenteil. Wir trainieren uns tribalistisches Einbahnstraßendenken an, sehen die Welt und die Menschen nicht mehr klar und verbauen uns die Wege zu enorm vielen wertvollen Erkenntnissen, da wir fest davon überzeugt sind, dass es nirgendwo außer in unserer eigenen Ideologie etwas Wichtiges zu lernen gebe. Und das schadet nicht nur dem Individuum, sondern ist der perfekte Nährboden für Extremismus sowie eine Gefahr für sozialen Frieden und Demokratie.

Siehe auch:
Die besten Argumente gegen die Cancel Culture (Alex O'Connor)

Die meisten Menschen sind nicht annährend so doof, verbohrt und bösartig, wie es uns Social Media suggeriert. Und auch die größte Menge an schlechten Argumenten beweist nicht, dass es keine guten Argumente für eine Position gibt, wie wir im letzten Beitrag ausführten. Doch wie ließe sich diese gewaltige kognitive Online-Impfkampagne aufhalten? Die Wurzel des Übels liegt wohl darin, dass die Monetarisierungsmodelle des Internets dazu anregen, die menschliche Psyche auf diese schädliche Weise auszunutzen. Dieser „freie Markt“ tut insbesondere der Qualität unserer Medien ganz und gar nicht gut. Nicht immer ist das, was viele Leute wollen (z.B. Populismus & Polemik), auch das, was sie zu einer optimalen Meinungsbildung brauchen (ausgewogener Qualitätsjournalismus). Wie man das am besten löst? Fragt uns etwas Leichteres.

 

 

Für diejenigen, die die Wirklichkeit klar sehen wollen

Wenn du dich von diesen Mechanismen nicht in die Irre führen lassen willst, dann können wir dir vor allem die zwei Regelvorschläge aus unserem letzten Beitrag empfehlen: Wandle die Strohmänner und verkürzten Schnipsel auf Social Media in Stahlmänner um und suche dir die besten Vertreter einer Position, die es gibt. Und in diesem Zusammenhang findet sich auch ein Funken Hoffnung: Zunehmend finden bei YouTube, Spotify und Co. auch längere, differenziertere Podcastgespräche mit intellektuell redlicheren Denkerinnen und Denkern ein großes Publikum.

Wer so richtig ernst machen will mit dem klaren Blick auf die Wirklichkeit, dem empfehlen wir mit Nachdruck das Buch The Scout Mindset“ von Rationalitäts-Expertin Julia Galef, dessen Inhalte wir derzeit intensiv auf Facebook thematisieren. Darin geht es darum, was voreingenommenes und was ergebnisoffenes Denken ist, was die Anreize für die beiden Arten sind, wie wir das ergebnisoffene „Kundschafter-Denken“ besser praktizieren können – und warum wir das überhaupt tun sollten. Das ist ein enorm wichtiger Ansatz, der aus unserer Sicht im Diskurs über (epistemische) Rationalität bisher oft gefehlt hat.

Lasst euch nicht verrückt machen – das ist es nicht wert. Und redet ab und zu wieder mal ganz klassisch analog mit echten Menschen. Social Media ist nicht repräsentativ – und verzerrt selbst diesen nichtrepräsentativen Ausschnitt aus der Bevölkerung noch einmal. Dann hoffentlich bis zum nächsten Beitrag!

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