Vielfalt ist wertvoll – auch bei Meinungen!

Das Wichtigste in Kürze:

  • Wenn wir Demokraten sein wollen, müssen wir uns der Frage stellen, warum wir eine offene Gesellschaft einer Diktatur nach unseren Vorstellungen vorziehen würden.
  • Wenn Meinungen unter sich bleiben, radikalisieren sie sich. Extremismus ist nicht gut.
  • Rechts und Links haben ihre Stärken und Schwächen. Sie können sich ideal ergänzen, indem sie ihre Stärken ausspielen und die andere Seite auf ihre blinden Flecken aufmerksam machen. Wir müssen Meinungspluralität nicht bloß ertragen – sie dient letztlich uns allen. 

 

Es waren einmal zwei Geschwister, die waren beide sehr draufgängerisch. Sie gingen durch den Wald und suchten ständig nach Abkürzungen und Herausforderungen. Wenn der Junge über einen Stein sprang, sprang seine Schwester bald über einen größeren. Sie schaukelten sich gegenseitig hoch und wurden immer waghalsiger, bis sie schließlich einen Abgrund überspringen wollten, der viel zu breit für sie war, und beide starben. 

Es waren einmal zwei Geschwister, die waren beide sehr vorsichtig. Sie gingen durch den Wald und gaben immer Acht, nicht vom sicheren Weg abzukommen. Wenn sich der Junge erschreckte, weil der Wind durch die Wipfel rauschte, wurde auch seine Schwester ängstlicher. Sie schaukelten sich gegenseitig hoch und wurden immer vorsichtiger, bis sie sich schließlich in einer Höhle verbarrikadierten und erfroren.

 

Es waren einmal zwei Geschwister, die waren sehr verschieden: der Junge war sehr draufgängerisch, das Mädchen sehr vorsichtig. Sie gingen durch den Wald und verhielten sich sehr unterschiedlich. Wenn der Junge eine Abkürzung nehmen wollte, stellte seine Schwester das in Frage, und sie handelten aus, ob die Abkürzung sinnvoll wäre. Wenn das Mädchen wegen eines Geräusches erschrak und ihnen ein Versteck suchte, stellte ihr Bruder das in Frage, und sie handelten aus, ob die Vorsicht sinnvoll wäre. Obwohl sie sich die meiste Zeit richtig auf die Nerven gingen, ergänzten sie sich wunderbar, trafen gute Entscheidungen und kamen wohlbehalten ans Ziel.

 

Eine Frage zum Einstieg:

Würdest du lieber in einer Demokratie leben oder in einer Diktatur nach deinen Vorstellungen? 

Wenn du Mühe damit hast, Argumente dafür zu finden, dass eine Demokratie besser ist als eine Diktatur nach deinen Vorstellungen, dann wirst du in diesem Artikel ein paar davon finden. Es geht um folgende Frage: Was sind die Vorteile davon, eine offene Gesellschaft mit Meinungspluralität links und rechts zu haben?

Damit wir diese Frage beantworten können, müssen wir erst einmal verstehen, was „rechts“ und „links“ überhaupt bedeutet. Der amerikanische Sozialpsychologe Jonathan Haidt („The Happiness Hypothesis“, „The Righteous Mind“, „The Coddling of the American Mind“) forscht seit langer Zeit eingehend über Moral und hat viele faszinierende Kenntnisse über links und rechts, progressiv und konservativ gewonnen. Und das verrät uns viel Nützliches.

Die 5 Grundlagen der Moral

Jonathan Haidt hat in seiner Moralforschung 5 Ebenen identifiziert, auf denen Menschen über Moral nachdenken:

  • Leid/Fürsorge
  • Gerechtigkeit/Gegenseitigkeit
  • Gruppenloyalität
  • Autorität/Respekt
  • Reinheit/Heiligkeit

 

Bild: Jonathan Haidt (https://www.youtube.com/watch?v=8SOQduoLgRw)

Haidt hat Rechte und Linke weltweit danach befragt, wie wichtig ihnen diese Themen aus moralischer Sicht sind. Weltweit zeigt sich dasselbe Bild mit nur geringfügigen Unterschieden: Für Linke (in den USA „Liberals“ genannt) geht es bei Moral fast nur um Leid und Gerechtigkeit, während Rechte (in den USA „Conservatives“ genannt) auch Autorität/Respekt, Gruppenloyalität und Reinheit/Heiligkeit als wichtige moralische Angelegenheiten betrachten. In der politischen Sphäre sind sich also alle einig, dass wir Leid reduzieren sollten und es gerecht zu und her gehen sollte, aber die rechte Seite schätzt zusätzlich Dimensionen von Moral, die der linken nicht als wichtige Moraldimensionen erscheinen. Das erklärt zum Beispiel, warum Rechte Linke besser verstehen als umgekehrt. Schauen wir genauer hin: Was wissen wir über Linke und Rechte?

Siehe auch:
Weisheit, Kapitel 3: Wie man in Richtung Weisheit reist

 

 

Der durchschnittliche Linke

Schon der Psychologe Robert McCrae hat festgestellt, dass politisch links und rechts stehende Menschen zu bestimmten Eigenschaften neigen. Typisch für Linke ist besonders das Persönlichkeitsmerkmal der Offenheit für neue Erfahrungen. Wer unorthodoxe Ideen und Veränderung spannend findet und gern Neues ausprobiert, wählt eher links. Linke sind offener für experimentelle Reformen des Systems, für fremde Kulturen und aufregende Kunst. Damit geht einher, dass solche Leute Tradition oft eher skeptisch betrachten. Sie reagieren allergisch auf altbackene, starre Strukturen. Patriotismus und Tradition sehen solche Leute deshalb meist nicht als moralisch wichtige Angelegenheiten an. Ihnen geht es zentral um Leid und Gerechtigkeit, und was gegen ihre Vorstellung von fürsorglicher, gerechter Politik verstößt, verärgert sie. Der ideale Staat gleicht für sie tendenziell einer fürsorglichen Mutter. Sie betonen die Gleichheit der Menschen.

 

Der durchschnittliche Rechte

Gleichsam wurden auch bei politisch rechts stehenden, konservativeren Menschen bestimmte Eigenschaften häufig festgestellt. Viele Rechte mögen Ordnung und Loyalität. Sie sind vorsichtiger und Veränderung gegenüber oft erst einmal skeptisch. Tradition und Patriotismus sind für sie oft Herzensangelegenheiten. Maßnahmen zur Bekämpfung von Leid und zur Förderung von Gerechtigkeit müssen aus ihrer Sicht immer mit den Bedürfnissen nach Ordnung, Gruppenloyalität, Tradition und je nachdem auch Heiligkeit (v.a. Religion) abgewogen werden. Der ideale Staat ist für sie tendenziell wie ein strenger Vater. Sie betonen die Verschiedenheit der Menschen.

 

Die Politik als Gerichtsverfahren

Was bedeutet dies nun für die Politik? Stellen wir uns vor, dass die Politik ein Gerichtsverfahren ist. Der Angeklagte ist der Status Quo, die Tradition. Sein Anwalt: die politische Rechte. Sie verteidigt das, was wir haben, und stellt Änderungsvorschläge in Frage. Der Staatsanwalt ist die politische Linke. Sie kritisiert den Status Quo und bringt Änderungsvorschläge ein. So ergänzen sich rechts und links und tragen beide ihren Teil zu einem ausgeglichenen Gerichtsverfahren mit einem möglichst informierten und weitsichtigen Urteil bei.

Bild: waitbutwhy.com (https://waitbutwhy.com/2019/12/political-disney-world.html)

Was passiert, wenn es nur Anwälte gibt? Oder nur Staatsanwälte? Sie radikalisieren sich. Schkade, Sunstein und Hastie (2006) untersuchten „ideologisch reine“ linke und rechte Gruppen, die sich trafen, um eine Zeit lang unter sich über verschiedene politische Themen zu sprechen. Die Linken rückten dadurch in allen besprochenen Fragen weiter nach links, die Rechten weiter nach rechts. Ebenso stellten Sunstein, Schkade, Ellman und Sawicki (2006) fest, dass linke Richter progressiver und rechte Richter konservativer urteilen, wenn das Gericht aus Gleichgesinnten besteht. Wir sind wieder bei den Geschichten vom Anfang angelangt, bei den beiden Geschwistern, die sich gegenseitig hochschaukeln, ihre blinden Flecken übersehen und sich so ins Unglück stürzen. Das passiert, wenn die Meinungsvielfalt stirbt. Die vorherrschende Meinung radikalisiert sich zunehmend und die Situation eskaliert leicht.

Man kann jede Ideologie zu weit treiben. Jede Ideologie kann mit Gewalt durchgesetzt werden, jede Ideologie kann Andersdenkende kriminalisieren und mit absolutem Wahrheitsanspruch die differenzierten Schattierungen der Realität übergehen. Extremismus ist nicht gut – und ein hervorragendes Mittel gegen Extremismus heißt Meinungsvielfalt. Wir sollten Meinungsvielfalt aus dem gleichen Grund schätzen, aus dem wir Gewaltenteilung schätzen. Wenn sich Monopole bilden, bilden sich leicht auch gefährliche Dynamiken. Wir finden es meist enorm schwer, die eigenen Denkfehler zu durchschauen, während das anderen mühelos gelingt. Deswegen brauchen wir Andersdenkende, die uns auf die Finger schauen.

Siehe auch:
Rabendialog #1: Darum gibt es Hugin & Munin

Rechts und Links als Yin und Yang

Sowohl die Linke als auch die Rechte haben positive und negative Eigenschaften. Es ist gut, offen für Neues zu sein und die Gleichheit der Menschen zu betonen. Dabei übersieht man aber leicht, was man an Gutem hat, was die Gefahren einer Veränderung sein könnten und dass es auch Unterschiede zwischen den Menschen gibt, die berücksichtigt werden sollten. Es ist gut, das Gute zu bewahren, was man hat, und die Verschiedenheit der Menschen zu betonen. Dabei übersieht man aber leicht, was sich durch Veränderung verbessern ließe und dass die Menschen auch in vielerlei Hinsicht gleich sind. Beide Seiten haben ihre Stärken und ihre blinden Flecken, und im Zusammenspiel ergibt sich die Chance auf eine gegenseitige Ergänzung zum Vorteil von allen – auch wenn man sich dabei, wie die Geschwister in der dritten Geschichte oben, gehörig auf den Keks geht.

Was die Linken in diesem Zusammenspiel beitragen, ist dabei leichter zu sehen. Die Geschichte der Menschheit erscheint uns manchmal wie ein einziger Triumphzug der Linken über die Rechten. Was wurde den Konservativen nicht alles abgetrotzt! Was wir dabei aber übersehen, ist, dass die Beiträge der Konservativen nicht für Schlagzeilen sorgen. Wenn ein undurchdachter Vorschlag der progressiven Linken von den Rechten abgewehrt wird, geht das nicht in die Geschichte ein. Es ist aber genau so wichtig wie eine Veränderung des Status Quo. Die Linken waren nicht immer auf der „richtigen Seite der Geschichte“ – immer wieder musste ihr Übermut von der vorsichtigen Schwester, den Rechten, gebremst werden.

Der Wert der Meinungsvielfalt

Meinungsvielfalt ist so wertvoll, weil niemand von uns alle Perspektiven und Fakten kennt und jeder von uns blinde Flecken hat. Jeder von uns tendiert dazu, ein gutes Gespür für manche Dinge zu haben und andere zu vernachlässigen. Jeder von uns hat in mancher Hinsicht Recht und liegt in anderer Hinsicht falsch. Deshalb sollte kein Mensch und keine Ideologie alleine ein Land führen, und deshalb kann jeder von uns etwas dazu beitragen, dass wir ein besseres Zusammenleben erreichen. Wer andere Meinungen ausblendet, ignoriert seine blinden Flecken und begibt sich auf den Pfad der Radikalisierung, hin zum Extremismus, der nie wünschenswert ist. Meinungspluralität ist ein Gegengift gegen Extremismus.

Lernen wir endlich die andere Seite des politischen Spektrums kennen. Verstehen wir, warum ihnen wichtig ist, was für sie wichtig ist. Und auch wenn wir ihnen in vielerlei Hinsicht überhaupt nicht zustimmen: Erkennen wir ihren Wert als ausgleichender Einfluss an. Wir müssen Meinungsvielfalt nicht nur ertragen, wir können sie auch schätzen!

Wir bauen alle am selben Haus, und die einen hängen stärker an den bestehenden Strukturen und der traditionellen Architektur – und das auch immer wieder aus gutem Grund. Die anderen wollen lieber Neues dazubauen und Altes abreißen, und auch das hat immer wieder seine Berechtigung. Bleiben wir im Gespräch, damit wir das beste Haus aller Zeiten bauen können, ohne es unbewohnbar zu machen – denn dazu brauchen wir Mut und Vorsicht, Träumerei und Realismus, links und rechts.

 

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert