3 Gründe, warum der Dialog tot ist

Dialog ist tot

Das Wichtigste in Kürze:

  • Beim beliebten „Nutpicking“ werden einzelne Spinner, Randmeinungen und schlechte Argumente einer Seite ins Rampenlicht gerückt, um diese als Ganzes schlecht aussehen zu lassen. Das befeuert die Polarisierung massiv.
  • Beim ebenfalls beliebten Burg und Siedlung-Manöver zieht man sich auf unangreifbare Positionen zurück, um angreifbare Positionen nicht verteidigen zu müssen. Auch das blockiert und vergiftet Debatten.
  • Die beliebten Strohmänner dienen dazu, ein Gegenargument auf unredliche Weise so angreifbar wie nur möglich darzustellen. Auch das macht alles nur schlimmer statt besser. Wir müssen den Leuten irgendwie die Angst davor nehmen, falschzuliegen, und sie durch Neugier ersetzen, wenn wir Besserung wollen. 

 

Wir schreiben das Jahr 2020. Menschen, die in brisanten Fragen anderer Meinung sind, reden immer weniger miteinander – und wenn sie es tun, tun sie das so unproduktiv, dass man als Wahrheitsliebhaber das kalte Grausen kriegt. Wie so oft gibt es etliche Gründe dafür. Wir haben 3 davon herausgepickt, die uns in letzter Zeit besonders aufgefallen sind, und überlegen, was die Ursachen dahinter sein könnten.

Die alten Griechen liebten die Diskussion und sahen sie als essentiell für ein gutes Zusammenleben an. In einem Debattierkurs des Vereins schweiz debattiert lernten wir kürzlich, wie sie die Redekunst – die Rhetorik – verstanden. Sie sprachen unter anderem von drei Ebenen, die angesprochen werden sollten, um überzeugend zu wirken:

  • Logos – die „Kopfebene“, sprich Logik/Vernunft
  • Ethos – die „Herzebene“, sprich Ethik/Moral/Integrität
  • Pathos – die „Bauchebene“, spricht Emotion/Leidenschaft

Pathos und Ethos sind auf dem Vormarsch in unseren Diskursen, während die Ebene des Logos anscheinend immer mehr zurückgedrängt wird. Die Ursachen sind zahlreich und komplex. Ein Grund könnte sein, dass es in unseren Zeiten so manche ethisch brisante Fragestellung zu diskutieren gibt und verschiedene Standpunkte in unserer immer vernetzteren Welt immer mehr aufeinander prallen. Und bei Diskussionen über ethisch brisante Fragestellungen hat unser interner Wahrheitssucher einen schweren Stand, wie die Forschung immer wieder zeigt. So konnte etwa festgestellt werden, dass dann oft nicht primär die Hirnbereiche für logisches Denken aktiviert werden, sondern diejenigen, die auf lebensbedrohende Gefahren reagieren (Kaplan/Gimbel/Harris 2016).

Doch schauen wir mal genauer hin: Was gibt es für Techniken und Dynamiken in unseren Diskursen, die sie besonders erschweren? Wir haben drei davon ausgewählt, die uns in letzter Zeit besonders aufgefallen sind.

1. Nutpicking

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Der erste Grund ist das, was der englische YouTuber Rationality Rules „Nutpicking“ getauft hat, zu Deutsch vielleicht übersetzbar mit „Spinnerpickerei“. Dabei pickt man sich lächerliche/ethisch sehr fragwürdige, extrem angreifbare Aussagen oder Handlungen der anderen Seite heraus, damit man mit der Ingroup darüber lachen und sich darüber empören kann. Es geht dabei in erster Linie um Entertainment und moralische Selbstüberhöhung. Dumme Aussagen sind lustig und es fühlt sich gut an, sich ohne Diskussion moralisch über andere erheben zu können. Nur leider hängt an dieser von links bis rechts, von Gläubigen bis Religiösen und Ökos bis Umweltsündern sehr beliebten Beschäftigung ein ganzer Rattenschwanz von negativen Folgen.

  • Durch Nutpicking wird ein enorm negatives Bild von der Gegenseite als repräsentativ etabliert, das deren Vielschichtigkeit nicht gerecht wird.
  • Das Publikum speichert die gesamte Gegenseite als dumm und böse ab und ruft dieses Interpretationsmuster auf, sobald eine Aussage oder Person so wirkt, als könnte sie zur Gegenseite gehören.
  • Wer mit extrem angreifbaren Argumenten der Gegenseite gefüttert wurde, der wird oft gegen die ganze Seite „geimpft“ (in der Psychologie bekannt als Inoculation Theory): Man denkt, man habe nun die Argumente für die andere Seite gehört und widerlegt, der Fall sei abgeschlossen.
  • Dabei begeht man den Fehlschluss-Fehlschluss: Dass es schlechte Argumente für eine Position gibt, beweist nicht, dass es keine guten gibt.
Siehe auch:
Welche Eigenschaften hat der ideale Philosoph?

Nutpicking macht Spaß, aber wer für Wahrheitssuche und Dialog ist, sollte es sich verkneifen. Reiten wir nicht zu viel auf nicht repräsentativen Spinnern und leicht abschießbaren Randmeinungen herum und versuchen wir nicht, miese Argumente als das beste darzustellen, was die Gegenseite zu bieten hat. 

2. Burg und Siedlung

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Vorgehensweisen wie das Nutpicking führen dazu, dass die Leute andere Anschauungen pauschal als lächerlich und böse wahrnehmen. Aufgrund ihrer evolutionären Vergangenheit tun sie alles, um nicht als dumm und böse dazustehen. Das führt zum Beispiel dazu, dass sie sich bei Kritik bildlich gesprochen auf die Burg zurückziehen. Das sogenannte Burg und Siedlung-Manöver besteht darin, bei Angriffen auf angreifbare Aussagen (Siedlung) auf unangreifbare Aussagen (Burg) auszuweichen und so die Diskussion über die angreifbare Aussage zu unterbinden.

Oft führen die Leute etwa eine ethisch aufgeladene Grundhaltung ins Feld, der kaum jemand nicht zustimmen würde, nachdem ein sehr spezifischer Handlungsvorschlag von ihnen kritisiert wurde. Sie äußern etwa konkrete Ideen zum Vorgehen in Migrationsfragen und bei Kritik sagen sie: „Ich bin doch einfach nur für Menschenrechte!“. Ebenfalls häufig ist es, seine Argumentation mit einer wissenschaftlichen Studie zu beginnen, daraus eine Interpretation abzuleiten und Kritik an dieser Interpretation dann als Leugnung der Studienresultate zu bezeichnen. Auch das ist sehr bequem für die ausführende Person, zieht aber zahlreiche negative Folgen nach sich.

  • Das Burg und Siedlung-Manöver tötet notwendige und legitime Diskussionen ab, weil diskutable Ideen mit indiskutablen Ideen gleichgesetzt und so kritikimmun werden.
  • Darüber hinaus befördert es eine Verhärtung der Fronten, weil gewisse Positionen oder sogar die gesamte Weltanschauung einer Person auf unangreifbare Ideen reduziert werden. Wer eine unangreifbare Idee vertritt, der braucht erstens nicht zu diskutieren und hat zweitens nur Vollidioten und Teufel als Gegner – wer widerspricht schon den Menschenrechten oder harten Daten?

Deswegen ist es so wichtig, zwischen Grundsätzen/Daten und daraus abgeleiteten Folgerungen zu unterscheiden und diese Dinge nicht zu verwechseln.

3. Strohmänner

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Stell dir vor, du musst dich und ein paar andere, fremde Leute als Pappkameraden für einen Schießstand nachbauen. Als du dich nachbildest, bist du ein bisschen großzügig, weil du nicht willst, dass deine Figur allzu oft getroffen wird. Du machst dich schlanker und schön dunkel, damit du schlecht zu sehen und schwer zu treffen bist. Vielleicht bist du auch so dreist und lässt die Zielscheibe oder gar eine ganze Extremität weg. Als du die anderen erstellst, bist du hingegen fies, weil du willst, dass diese Figuren getroffen werden und deine ganz bleibt. Du baust sie sehr breit und knallbunt, fügst sogar noch die eine oder andere Extremität hinzu und malst die Zielscheibe fett mit Leuchtfarbe auf.

So gehen wir oft in Diskussionen vor: Die eigene Haltung wird auf möglichst unangreifbare Ideen reduziert (siehe Punkt 2), die gegnerische Haltung maximal negativ aufgebauscht – wir bauen einen Strohmann. Dabei greifen wir oft auf das Bild zurück, das wir aufgrund von Nutpicking (Punkt 1) von der Gegenseite haben, und projizieren die dümmsten und bösartigsten Ideen in ihre Aussagen hinein, um sie schnell vernichtend abschießen zu können. Wir entfernen alle Nuancen aus ihren Beiträgen, sodass ihre Position wie ein knallrot leuchtender, breiter Pappkamerad mit der Aufschrift „SHOOT ME“ aussieht. Das ist ziemlich merkwürdig, denn warum haben wir das nötig? Wir wissen doch, dass kaum jemand so aussieht – und wenn wir das Argument der Gegenseite verzerren müssen, um es angreifen zu können, dann heißt das ja, dass wir es in seiner wirklichen Form akzeptieren könnten!

Siehe auch:
Einsamkeit – das Los aller hervorragender Geister?

Auch hier gilt wieder: Es ist bequem und macht einen Heidenspaß, auf riesige, bunte Zerrbilder anderer Positionen zu schießen, aber die Folgen sind fatal.

  • Zunächst einmal muss uns klar sein, dass wir gar nicht mit unserem Gegenüber diskutieren, sondern eben mit einer Pappfigur. Wir erreichen also nichts weiter als einen gefälschten Ego-Boost.
  • Wir zementieren ein gefälschtes negatives Bild von der Gegenseite bei Gleichgesinnten und machen die Gegenseite wütend, was sie weniger gewillt macht, uns zu verstehen – Polarisierung pur.

Wer weniger Polarisierung und mehr produktiven Dialog will, der muss andere fragen, was sie genau denken, wohlwollend zuhören und präzise bei dem bleiben, was sie sagen und nicht sagen – so, wie er auch selbst gern behandelt werden würde.

Was tun dagegen?

In ihrem Buch „Produktives Streiten“ beschreiben Tobias Wolfram, Felix Urban, Michael Tezak und Johannes Kurzbuch den „ideologischen Turing-Test“. Dabei geht es darum, die Position des Gegenübers in einer Debatte so überzeugend verteidigen zu können, dass man nicht von einem ernstzunehmenden Vertreter dieser Position unterschieden werden kann. Wir haben das Gefühl, dass die Leute noch nie so schlecht darin waren, diesen Test zu bestehen, wie heute. Man versteht die Gegenseite nicht – aber man denkt, man verstünde sie genau. Und dank Nutpicking, Burg und Siedlung, Strohmännern und vielem mehr versteifen sich die Leute immer mehr in ihren simplen und falschen Erklärungsmustern, die ihnen sagen, sie seien rational und gut und die anderen dumm und böse – ein Teufelskreis.

Die Illusion von Wissen ist bekanntlich gefährlicher als Unwissenheit. Denn wer meint, die Gegenseite zu kennen, befasst sich nicht mehr mit ihr, und wer meint, die Wahrheit zu kennen, der sucht sie nicht mehr und kann keine Irrtümer mehr bei sich feststellen. Doch damit unser Zusammenleben funktioniert und besser werden kann, brauchen wir produktive, sachliche Dialoge mit dem Ziel des Erkenntnisgewinns. Nutpicking, Burg und Siedlung und Strohmänner sind nicht nur Gründe für den Tod des Dialogs, sondern auch Symptome des darunterliegenden Grundproblems, das auch Wolfram, Urban, Tezak und Kurzbuch identifiziert haben: Unsere Diskurse sind geprägt von Angst statt Neugier.

Um die Verwendung und Wirkung von Nutpicking, Burg und Siedlung, Strohmännern und anderem zu reduzieren, müssen wir nicht nur darüber aufklären, sondern vor allem auch die Angst davor abbauen, seine Meinung zu ändern. Wir müssen an die Wurzel dieser Angst und uns überlegen, wie wir den Menschen diese Angst nehmen und sie durch Neugier ersetzen können. Einige Vorschläge dafür finden sich in unserem Blogbeitrag zum Führen unmöglicher Gespräche – weitere Vorschläge sind willkommen!

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