Bei der Suche nach Wahrheit und Weisheit steht uns Menschen einiges im Weg – und zwar bei Weitem nicht nur die Tatsache, dass wir nicht alles wissen. Wir denken immer mit einem Gehirn, das Millionen über Millionen von Jahren der Evolution hinter sich hat und als Teil einer sozialen Spezies in einer komplexen Kultur lebt. Dabei haben sich Heuristiken herausgebildet; Denkstrategien und -verzerrungen, die gewisse adaptive Vorteile bieten, aber auch schnell in die Irre führen.
Was genau braucht es, damit menschliche Wesen in der Lage sind, möglichst effizient und effektiv die Wahrheit zu suchen? Hier unsere Liste mit den Eigenschaften, die der „optimale wahrheitssuchende Mensch“ unserer Ansicht nach haben sollte.
1. Epistemischer Realismus
Die Suche nach Wahrheit setzt voraus, dass es Wahrheit gibt und wir sie mindestens theoretisch erkennen können. Davon muss ein Philosoph ausgehen: Es gibt wahr und falsch und Aussagen können unterschiedlich gut gerechtfertigt sein. Alles Denken setzt diesen Grundsatz voraus.
2. Epistemische Bescheidenheit
Die andere Seite der Medaille: Als effektive Philosophin sollte man immer mit dem Mindset unterwegs sein, dass man nie ganz sicher sein kann, die Wahrheit gefunden zu haben und man nur unterschiedliche Grade von Sicherheit annehmen sollte, die aber nie 100% erreichen sollten. Man muss wissen, dass man immer falschliegen kann, auch wenn man sich absolut verflucht sicher ist.
3. Emotionale Reife
Als Nächstes sollte ein effektiver Philosoph eine gewisse emotionale Reife besitzen. Er sollte sich nicht vor der Wahrheit fürchten und auch nicht Angst davor haben, falschzuliegen. Idealerweise hat er es bereits selbst erlebt, dass er die Falschheit einer Idee erkannte, bei der er sich absolut sicher war und die ihm viel bedeutete. Er weiß, dass er Meinungen hat und nicht Meinungen ist.
4. Moralische Unaufgeregtheit
Eine effektive Philosophin sollte keine Tugendwächterin sein, die an jeder Ecke das „Böse“ sieht. Sie sollte keine Angst haben, unaufgeregt über Tabuthemen offen nachzudenken. Dies war immer ein entscheidendes Merkmal von DenkerInnen, die entgegen den Orthodoxien ihrer Zeit Fortschritt anregten. Ihre moralische Priorität sollte die Wahrheit sein, keine bestimmten Glaubenssätze.
5. Soziale Unabhängigkeit
Um effektiv die Wahrheit suchen zu können, sollte ein Mensch sich nicht davor fürchten, dass seine für ihn bedeutsamen sozialen Beziehungen auf dem Spiel stehen, wenn er offen nachdenkt und Belegen und Argumenten zur wahrscheinlichsten Schlussfolgerung folgt. Dazu braucht er ein soziales Umfeld, das mindestens teilweise ebenfalls aus Wahrheitssuchenden besteht – oder er muss Einsiedler sein, wie es so einige Philosophen waren.
6. Ambiguitätstoleranz
Wer die Wahrheit finden will, muss die Wahrheit auch aushalten können. Dazu zählt ganz zentral die Fähigkeit, mit Mehrdeutigkeit, Abstufungen und Differenziertheit leben zu können. Schwarz-weiß-Denken und schlecht begründete, übereinfache und pauschal generalisierende Antworten sollten einer Philosophin widerstreben.
7. Unwissenheitstoleranz
Ebenfalls zu den Eigenschaften für einen effektiven Philosophen gehört die Fähigkeit, die eigene Unwissenheit zu erkennen, zuzugeben und auszuhalten, statt sich mit falscher Sicherheit und Lückenbüßer-Antworten zu profilieren und zu trösten.
8. Wissen über Argumentation
Die Werkzeugkiste einer Philosophin sollte sie ebenfalls dazu befähigen, Argumente als Syllogismen zu denken, ihre Stärke einzuschätzen und Fehlschlüsse zu identifizieren. Insbesondere sollte sie in der Lage sein, implizierte Prämissen hinter Behauptungen und Wertesystemen aufzudecken und zu prüfen.
9. Psychologisches Wissen
Auch psychologisch sollte ein Philosoph ein wenig Bescheid wissen, also Kenntnisse über das Erleben und Verhalten von Menschen haben. Das Wichtigste dabei sind Kenntnisse über Meinungsbildung und kognitive Verzerrungen, die Menschen oft beim Denken beeinflussen. Wer weiß, wie Meinungen entstehen und wer die Tücken des Denkens kennt, kann sich selbst und anderen mehr Verständnis entgegenbringen und besser auf die Finger schauen.
10. Korrekter Einsatz von Rationalismus und Empirie
Eine gute Philosophin weiß, welche Fragen rationalistisch untersucht werden können und welche empirisch angegangen werden sollten. Sie versucht nicht, die ganze Welt aus dem Wohnzimmersessel zu erklären, und pflegt gleichzeitig keinen fehlgeleiteten Szientismus.
11. Fokus auf Begründung, nicht Schlussfolgerung
Wenn ein Philosoph eine Meinung hört, bewertet er sie nicht primär nach ihrem Inhalt, sondern nach ihrer Begründung. Eine verpönte, skurril und falsch klingende Meinung verwirft er nicht automatisch, sondern akzeptiert sie, wenn sie gut gerechtfertigt ist. Eine beliebte, vernünftig erscheinende und als Inbegriff der Moral geltende Meinung akzeptiert er nicht automatisch, sondern verwirft sie, wenn sie schlecht gerechtfertigt ist.
12. Wissensdurst & Lernfreudigkeit
Eine effektive Philosophin sollte gerne bereit sein, sich über das Gebiet zu informieren, über das sie nachdenkt. Sie sollte Lust daran haben, Fachgebiete zu verstehen – natürlich vor allem, weil sie weiß, dass er so die Wahrscheinlichkeit verringert, zu falschen Schlüssen zu gelangen. Gleichsam sollte sie mit der Einstellung durch die Welt gehen, dass sie den Austausch mit anderen DenkerInnen braucht und von jedem Menschen etwas lernen kann.
Fazit
Der „ideale Philosoph“ – also der effektivste Wahrheitssucher -, ist aus unserer aktuellen Sicht jemand, der davon ausgeht, dass es Wahrheit gibt, dass wir sie mindestens theoretisch erkennen können und nicht alle Ideen gleich gut gerechtfertigt sind. Er widerstrebt sowohl einem plumpen Relativismus als auch einer plumpen Vergötterung der Wahrnehmung und Vernunft. Er kennt sich selbst und ist mit sich selbst und seinen Gefühlen im Reinen.
Er ist gelassen und nicht gefesselt von soziokulturellen Zwängen. Er hält Mehrdeutigkeit, Differenziertheit und Unwissenheit aus. Er weiß Bescheid über Argumentation und das Erleben und Verhalten seiner Spezies und reflektiert sich kontinuierlich auf dieser Basis. Er weiß, wann welche Methode angebracht ist, und schaut mehr auf Begründungen als auf Schlussfolgerungen. Und er ist immer gewillt, dazuzulernen und andere Perspektiven zu hören.
Findet ihr einen Punkt fehl am Platz? Fehlt aus eurer Sicht etwas? Ist es möglich, so zu werden – und ist es überhaupt wünschenswert? Wir hören mit Vergnügen eure Meinung!
Wenn nicht explizit danach gefragt worden wäre hätte ich es dieses Mal „übersehen“, da es echt nur eine Kleinigkeit ist.
Aber „keinen fehlgeleiteten Szientismus pflegen“ ist trivial, da fehlgeleitet per Definition nicht zielführend ist. Abgesehen davon sehe ich nicht, wo Szientismus einen als Philosophen schlechter macht. Man könnte argumentieren, das es einen zu schlechter Gesellschaft machen kann und man dadurch weniger Interaktion hat was einen wiederum zum schlechteren Philosophen macht.
Aber das ist abhängig von der Gesellschaft, daher würde ich es nicht als fixes Attribut festmachen.
Also der Einwand ohne Begründung: Szientismus muss nicht limitiert sein.
Kann man so werden?
Ich denke nein, aber man kann sich hinreichend gut annähern. So sehr man es auch versucht, man kann halt nicht lernen außerhalb seiner Muster zu denken, nur neue erlernen. Vielleicht wenn man sein Bewusstsein mit einer KI verschmilzt, vielleicht könnte man dann eine derartige Flexibilität erreichen. Aber das ist noch Zukunftsmusik oder gar unmöglich.
Ist es wünschenswert?
Nein, nicht pauschal, nicht für jeden. Das sollte von den persönlichen Zielen abhängig sein. Für mich erscheint es wünschenswert, aber mir ist bewusst das es auch anders sein kann.
Jetzt wo ich den Kommentar verfasse, fällt mir doch noch etwas ein was fehlt: Was ist ideal in diese Kontext? Ideal ist auf eine bestimmte Sache maximiert, aber auf was?
Auf die maximale Anzahl an eigenen Erkenntnissen optimiert? Dann fehlt Arbeitswut und Faszination für das triviale.
Auf die maximale Anzahl an Erkenntnissen an denen mitgewirkt wurde angepasst? Dann fehlt Arbeitswut und die Fähigkeit andere für seine Zwecke zu Begeistern.
Auf Zufriedenheit maximiert? Dann ist quasi alles überflüssig.
Wie immer hängt das Optimum von der Zielsetzung ab und die halte ich beim „Sein“ nicht für trivial.